Himmelsstürmer - Capus, A: Himmelsstürmer
Presse auf, als er einen Überflug des Vesuvs wagte, damit Wissenschaftler luftelektrische und geologische Messungen vornehmen konnten.
Um diese Zeit war es auch, da er aus dem Ballonkorb zu fotografieren begann. Die Fotografie selbst war erst wenige Jahrzehnte alt und steckte noch in den Kinderschuhen, und mit seinen Luftbildern betrat Spelterini weitgehend Neuland. Seine Kamera war groß wie eine Bierkiste und ebenso schwer, und seine Lumière-Glasplatten hatten eine Belichtungszeit von mindestens einer Dreißigstelsekunde. Da mussten Ballon und Fotograf lange stillhalten, damit das Bild nicht verwackelt wurde.
Mit seinen Luftaufnahmen hatte Spelterini ebenso großen Erfolg wie mit den Ballonfahrten. Dank ihnen konnten auch jene, die sich einen Platz im Ballonkorb nicht leisten konnten, die Welt von oben sehen. Die Majestät der Alpen, die verwinkelte Poesie mittelalterlicher Städte, die steinerne Unverwüstlichkeit ägyptischer Grabmäler, die schlangenhafte Geschmeidigkeit der Flussläufe auf ihrem Weg vom Gebirge zum Ozean – auf Spelterinis Bildern boten sie sich dem Betrachter in nie gesehener Augenfälligkeit dar. Er ließ von seinen Schwarzweißaufnahmen kolorierte Glasdias anfertigen und zeigte sie auf ausgedehnten Vortragstourneen durch ganz Europa. Und weil er ein faszinierender Erzähler war, der fließend Deutsch, Französisch, Englisch und Italienisch sprach, strömten die Menschen ihm in allen Ländern zu Tausenden zu.«Diese Bilder wollen als Kunstwerke gesehen und genossen werden», schrieb der Berliner Reichs Anzeiger , und auch die Neue Zürcher Zeitung war vom Lichtbildvortrag begeistert:«Spelterini ist ein Tausendkerl; was er außer seinen heilen Knochen aus den Fahrten in die Lüfte mit heruntergebracht hat, trägt er jetzt in zwei Kästen mit sich herum, bereit, im gegebenen Moment wie Aladin mit der Wunderlampe Schätze zu zeigen, Schlösser hervorzuzaubern und Bilder an die Wand zu werfen, die dem trunkenen Auge unauslöschbar bleiben werden.»
Um die Jahrhundertwende unterbrach Spelterini seine europäische Vortragstournee und kehrte in die Schweiz zurück, um sich und seinen Ballon in den Dienst der Naturwissenschaften zu stellen. Gelehrte aller Disziplinen vertrauten sich dem Kapitän an und nutzten seine Fahrten für wissenschaftliche Versuche. Der Zürcher Mediziner Armin Müller untersuchte die Herztätigkeit des Menschen bei rasch wechselndem Luftdruck, Professor Justus Gaule studierte das Verhalten der roten Blutkörperchen, und beiden stellte sich Spelterini als Versuchsobjekt zur Verfügung. Bei weiteren Fahrten kauften sich der Physiker Julius Maurer von der Meteorologischen Zentralanstalt und der Geologe Albert Heim vom Polytechnikum als Passagiere ein, um die Abhängigkeit der Lufttemperatur vom Luftdruck und der Höhe über dem Meer zu untersuchen sowie die Luftfeuchtigkeit in großen Höhen zu messen.
Gleichzeitig machte sich Kapitän Spelterini daran, etwas bis dahin Undenkbares zu wagen: einen Überflug der Alpen. Dieser hatte bisher unter Ballonfahrern als unmöglich gegolten, da die häufigen Fallwinde an den Flanken des Gebirges jeden nahenden Ballon immer wieder zurück an den Ausgangspunkt treiben würden. Spelterini aber kam zusammen mit Professor Heim zu der Überzeugung, dass man nur in genügend große Höhe aufsteigen müsste, damit der Ballon in höheren Luftschichten über alle lokalen Witterungsverhältnisse hinweggetragen würde.
Am liebsten wäre den Zürcher Professoren natürlich ein Flug von Zürich aus südwärts über den gesamten Alpenkamm gewesen. Die Schwierigkeit war aber, dass der Wind in Zürich fast immer aus Westen oder Südwesten bläst; selten nur weht er von Nordosten her, noch seltener aus Norden und praktisch nie aus Nordwesten. Der Ballon wäre also mit sehr großer Wahrscheinlichkeit parallel zu den Alpen abgetrieben worden, entweder nordostwärts nach Bayern oder in südwestlicher Richtung ins Burgund. Daher beschlossen die Herren, von Sitten im Wallis aufzusteigen. Da die Stadt eng umschlossen ist von den höchsten Gipfeln der Walliser, Berner und Innerschweizer Alpen, würde sich – egal, wohin der Wind das Luftschiff tragen mochte – in jedem Fall ein Alpenüberflug ergeben.
Eine zweite Schwierigkeit war die Beschaffung der Geldmittel. Um die viertausend Meter hohen Alpengipfel sicher zu überqueren, musste das Luftschiff in Höhen von über sechstausend Meter steigen, und dafür war die«Urania»zu klein und zu wenig robust.
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