Himmelsstürmer - Capus, A: Himmelsstürmer
dieser Erfahrungen die erste wissenschaftliche Studie über Nahtoderlebnisse bei Absturzopfern verfasst, welche internationale Beachtung und sogar Eingang in eine Erzählung Karl Mays fand. (Kuthab Aga:«Hast du, Effendi, schon einmal gehört, dass in der Todesstunde das ganze Leben des Sterbenden mit allem, was er längst vergessen hat, an ihm vorüberziehe?»Kara Ben Nemsi, alias Old Shatterhand:«Ja. Das hat man schon öfter behauptet.»Kuthab Aga:«Diese Behauptung ist entsetzlich wahr!»)
Albert Heim schaute dem Kapitän tief in die Augen, deutete auf das weiße und das rote Seil und antwortete:«Diese Seile zu kennen ist deine Pflicht; übrigens weiß ich trotz meines schlechten Gedächtnisses und meiner Schlaffheit hier oben ganz bestimmt, dass du am roten Seil zu ziehen hast. Das weiße ist die Reißleine.»Da fügte sich der Kapitän und zog die rote Leine, und eine halbe Stunde später, um 16.37 Uhr, landete die«Wega»nach fünfeinhalbstündiger Fahrt auf einer Wiese bei Rivière in der Nähe von Besançon, zweihundertneunundzwanzig Kilometer von der Place d’Armes in Sitten entfernt.
«Unsere Ballonfahrt ist weder die höchste noch die weiteste», zog Professor Heim Bilanz.«Aber sie ist die erste, die ein bedeutendes Gebirge überquert hat, und sie ist auch die erste, deren Ballon nicht nur auf wenige Minuten, sondern sehr lang und sehr weit sich in Höhen über fünftausend und sechstausend Metern gehalten hat.»
Da der Bann der Alpenüberquerung gebrochen war, unternahm Spelterini immer längere, höhere und gefährlichere Flüge durchs Gebirge. In dreizehn Jahren überflog er den Alpenwall insgesamt zehnmal in den verschiedensten Richtungen, fotografierte und nahm immer wieder Wissenschaftler mit. 1904 kehrte er für mehrere Monate nach Ägypten zurück, um die Weltwunder der Pharaonenstädte aus der Vogelperspektive festzuhalten. 1911 machte er einen Abstecher nach Südafrika und fotografierte Johannesburg sowie die Goldminen von Transvaal aus der Vogelperspektive. Und dann kam, als Spelterini schon über sechzig Jahre alt war, privates Glück hinzu. An seiner Seite tauchte eine schöne, kluge und um einiges jüngere Frau namens Emma auf, die Deutsch mit wienerischem Singsang sowie ein sehr gepflegtes Französisch sprach und angeblich mit dem Hause Habsburg verwandt war. Am 28. Januar 1914 führte er sie zum Traualter, und zwar nicht irgendwo, sondern am Trafalgar Square in London, in der altehrwürdigen Kirche von St. Martin in the Fields. Spätestens auf dem Standesamt muss ans Tageslicht gekommen sein, dass Emma streng genommen keineswegs eine blaublütige Habsburgerin aus Wien war, sondern eine gebürtige Karpf aus Marktheidenfeld in Bayern, und dass sie exakt fünfunddreißig Jahre und zweiundsiebzig Tage jünger war als der Bräutigam; am Tag ihrer Geburt war der Kapitän gerade damit beschäftigt gewesen, im Wiener Prater den Ballon für den denkwürdigen Ausflug mit Außenminister Kalnocky zu füllen.
Ein halbes Jahr nach der Hochzeit brach der Erste Weltkrieg aus, und die Belle Epoque, die Spelterini stets auf Händen getragen hatte, war von einem Tag auf den anderen zu Ende. In den mondänen Hotels von Montreux, Luzern und St. Moritz beglichen alle Gäste aus England, Russland und Amerika ihre Rechnungen und fuhren heim. In ganz Europa herrschte Generalmobilmachung und wurden die Grenzen geschlossen, und von freier, grenzenloser Luftschifffahrt konnte keine Rede mehr sein.
Eduard Spelterini zog sich mit Emma für die Dauer des Krieges als Privatier nach Coppet bei Genf zurück. Im zweiten Kriegsjahr engagierten sie einen jungen Mann namens Robert Zuber als Diener, der seine Gattin Alexandrine und das neugeborene Söhnchen Alexius mitbrachte, dem der Kapitän mit großväterlicher Zärtlichkeit zugetan war.
Aber Spelterinis Ersparnisse schmolzen, da er keinerlei Einnahmen mehr hatte, rasch dahin. Schon im dritten Kriegsjahr war er gezwungen, seine kostbaren Luftaufnahmen und Glasnegative zu verkaufen. Und als weitere zwei Jahre später der Krieg vorbei war, hatten sich die Zeiten von Grund auf geändert. Die mächtigsten Imperien der Welt waren zusammengebrochen, Kaiser und Könige hatten abgedankt, die Zarenfamilie war erschossen und der Haarföhn erfunden worden – und der Benzinmotor, der um ein Vielfaches kleiner, leichter und leistungsfähiger war als die Dampfmaschine, hatte seinen Siegeszug durch die Welt angetreten. Knatternd, rauchend und stinkend eroberte er das Land, das
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