Himmelsstürmer - Capus, A: Himmelsstürmer
Wasser und zuletzt auch die Luft.
Eduard Spelterini fand die junge Konkurrenz der Motorflugzeuge lärmig, gewöhnlich und eines Gentlemans in jedem Falle unwürdig. Es erbitterte ihn sehr, dass der Motorflieger Géo Chavez mit der ersten Alpenüberquerung Weltruhm erlangte, während er selbst, der doch die Alpen schon zwanzig Jahre früher bezwungen hatte, allmählich in Vergessenheit geriet. Aber die modernen Apparate hatten nun mal den nicht zu leugnenden Vorteil, dass sie die Illusion der Freiheit nicht nur in der Vertikalen, sondern auch in der Horizontalen ermöglichten, weil man mit ihnen ein angepeiltes Ziel unabhängig von der Windrichtung auf dem direktesten und schnellstmöglichen Weg mit großer Zuverlässigkeit erreichen konnte, weshalb schon bald Hunderte und Tausende von Flugzeugen den Himmel über Europa bevölkerten. Für Spelterinis Fesselballon interessierte sich kein Mensch mehr. Erst verloren die Zeitungen das Interesse, dann blieben die Geldgeber aus, schließlich die Fahrgäste.
Spelterini hatte keine Einkünfte mehr, und die letzten Ersparnisse vernichteten Weltwirtschaftskrise und Hyperinflation. Zwar erteilte ihm der Regierungsrat des Kantons St. Gallen am 22. März 1921 die späte Bewilligung, den Familiennamen seiner Väter endgültig abzulegen und sich künftig in allen offiziellen Dokumenten Spelterini zu nennen; in der Welt der Luftfahrt aber, die ihm alles bedeutete, war der Name nichts mehr wert.
Im Sommer 1922 verdingte er sich und seinen Ballon als Touristenattraktion im Kopenhagener Tivoli-Vergnügungspark. Der Aeronaut posierte in der Gondel mit kleinen Mädchen in Rüschenkleidchen und Buben in Matrosenanzügen, dann mit Journalisten, Schriftstellern und Militärs – meist am Boden und ohne dass dem Erinnerungsbild ein Start gefolgt wäre. Auf den Fotos, die aus jenen Tagen in Kopenhagen erhalten sind, macht der Kapitän tapfer lächelnd gute Miene zum ordinären Spiel, aber das Unglück steht ihm ins Gesicht geschrieben. Spelterini fühlte sich wie ein Zirkuspferd.
Als der skandinavische Sommer zu Ende ging und das Wetter zu rau wurde, kehrte Spelterini dem Vergnügungspark den Rücken und nahm endgültig Abschied von der großen Welt. Anfang 1923 ließ er sich mit Emma, Diener Robert Zuber sowie Alexandrine und dem kleinen Alexius, der auch schon acht Jahre alt war, in einem kleinen Ort namens Zipf bei Vöcklabruck in Oberösterreich nieder und kaufte ein einstöckiges Häuschen, das abseits des Dorfs zwischen Wiesen, Wäldern und Äckern stand und vier Zimmer hatte; zwei bewohnten die Spelterinis, zwei die Zubers. Hinter dem Haus gab es einen Hof, in dem Zuber dreihundert Hühner hielt, deren Eier er auf dem Markt verkaufte. Da der Kapitän nicht mehr fliegen konnte, lebten sowohl die Herrschaften als auch ihre Diener jahrelang ausschließlich vom Eierverkauf.
Spelterini selbst war beliebt und geachtet im ländlichen Ort, der ihn in vielem an Bazenheid erinnert haben mag. Er benahm sich leutselig und zog stets höflich den Hut, wenn die Leute des Dorfes ihn ansprachen, und er konnte aufs Charmanteste von exotischen Ländern und dem Zauber der Ballonfahrt berichten. Über sich selbst sprach er nie.
Im Spätsommer 1926 brach er noch einmal auf in die Schweiz, sammelte Geld bei alten Freunden und stieg am 16. September in einem gemieteten Ballon vom Gaswerk Zürich aus auf. Es war seine fünfhundertsiebzigste Fahrt; in vier Jahrzehnten hatte er nach eigenen Angaben tausendzweihundertsiebenunddreißig Passagiere in die Luft geführt, darunter hundertundsieben Damen. Mit an Bord waren diesmal der Apotheker Otto Brunner aus Zürich, zudem Kreiskommandant Kaspar Aeberli aus Oerlikon und Reporter Willi Bierbaum von der Neuen Zürcher Zeitung , der in siebzehn Jahren manche von Spelterinis Fahrten mitgemacht hatte. Beim Start stieg der Vierundsiebzigjährige wie eh und je auf den Korbrand und schwenkte seine weiße Kapitänsmütze, und dann sang er wohl noch einmal die Arie des Toreros aus Bizets Carmen . Nach einer herrlichen Fahrt bei bestem Wetter über St. Gallen und Appenzell geriet die Gesellschaft über dem Rheindelta in viertausenddreihundert Metern Höhe in dichten Nebel, der jede Orientierung unmöglich machte, und Spelterini, der mit seinen Kräften am Ende war, verlor das Bewusstsein, während der Ballon in die Vorarlberger Alpen abgetrieben wurde. Mit vereinten Kräften gelang es den drei Passagieren in höchster Not, vor der im Nebel verhüllten Westwand des Hohen
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