Himmelsstürmer - Capus, A: Himmelsstürmer
französischen Journalisten Jean Rodes. Dieser berichtete später, Isabelle habe stets auf dem Fußboden geschlafen, weil sie Betten nicht mehr gewohnt war, und abends sei sie oft mit den jungen Offizieren auf Kneipentour gegangen und habe Wetttrinken mit Kümmelschnaps, Chartreuse und Cointreau mitgemacht, was zuweilen im Straßengraben endete. Wenn die Soldaten sie dann ins Hotelzimmer zurücktrugen, wälzte sie sich stöhnend am Boden und fuchtelte in selbstmörderischer Absicht mit dem Revolver herum, wobei sie einmal um ein Haar ihren Mitbewohner erschossen hätte. Manchmal wurde ihr im Rausch auch sinnlich zumute, dann rief sie:«Je veux un tirailleur! Il me faut un tirailleur!»Und wenn sich bei solcher Gelegenheit ein französischer Offizier zum Dienst meldete, verschmähte sie ihn und verkündete, dass sie ausschließlich arabische Liebhaber akzeptiere.«Sie trank wie ein Legionär», sagte ein Bekannter,«und sie kiffte wie ein Süchtiger, und sie machte Liebe um der Liebe willen.»
Am Morgen danach war sie oft schon in der ersten Dämmerung im Sattel und brach auf zur nächsten Oase oder zum nächsten Schlachtfeld, um Reportagen zu schreiben oder im Auftrag Colonel Lyauteys mit aufständischen Berbern zu verhandeln.
Beruflich hatte sie nun Erfolg, aber er kam zu spät.«Sie beklagte sich nicht, aber man konnte ihre bittere Enttäuschung spüren», berichtete Colonel de Loustal, der sie in ihrem letzten Lebensjahr kennenlernte.«Sie erwartete nichts mehr vom Leben. Obwohl noch keine dreißig Jahre alt, hatte ihre Erscheinung nichts Anziehendes mehr. Das Gesicht war vom Alkohol verwüstet, die Stimme rau, der Schädel rasiert und ihr Mund zahnlos.»Ende des Sommers 1904 hatte sie derart heftige Malariaschübe, dass sie nach Aïn Sefra zurückkehrte und am 1. Oktober das Militärkrankenhaus aufsuchte, das neben der Kaserne auf einer Anhöhe stand. Zwei Wochen später war sie so weit wieder hergestellt, dass sie aufstehen und kleine Spaziergänge durch den Flur unternehmen konnte.
Am Morgen des 21. Oktober beschloss Isabelle, dass es genug sei mit dem ewigen Kamillentee, den strengen Blicken der Ärzte und dem faden Essen. Slimène war angereist und erwartete sie in einem einfachen Lehmhaus, das sie in der Unterstadt gemietet hatte. Um keine verlängerte Gefangenschaft zu riskieren, wartete sie die Morgenvisite des Arztes gar nicht erst ab, sondern trat um neun Uhr früh mit ihrem Bündel ins Freie. Es war ein schwüler Morgen, über den nahen Bergen türmten sich schwarze Gewitterwolken.
11 Pierre Gilliard
Am Tag, an dem Isabelle Eberhardt in der Sahara ertrank, fuhr Pierre Gilliard im Orientexpress über Wien, Budapest und Bukarest ans Schwarze Meer, um mit einem russischen Dampfschiff zur Halbinsel Krim überzusetzen. Er trug ein keckes schwarzes Kinnbärtchen und war fünfundzwanzig Jahre alt, Sohn eines kleinen Walliser Winzers und Student der Romanistik in Lausanne. Er hatte sein Studium unterbrochen, um ein Jahr lang bei russischen Adligen als Hauslehrer Französisch zu unterrichten.
Es wird Mitte Oktober 1904 gewesen sein, als er in Jalta eintraf, wo sein Arbeitgeber, der Herzog von Leuchtenberg, stets den Winter verbrachte. Nur einen Steinwurf von dessen Villa entfernt stand das Winterpalais der Zarenfamilie, und von der palmengesäumten Promenade aus, über die schon Tschechow, Tschaikowski und Tolstoi flaniert waren, hatte man einen prächtigen Blick aufs Schwarze Meer. Hierher fuhren Offiziere auf Fronturlaub und erholungsbedürftige Damen der guten Gesellschaft; sie vertrieben sich die Zeit, indem sie ihre Hündchen spazieren führten, Ausflüge in die Gebirgsdörfer der Tataren unternahmen oder Picknicks unter staubigen Zypressen abhielten. Im ewigen Frühling der russischen Riviera herrschte eine Atmosphäre melancholischer Heiterkeit, die nichts ahnen ließ von den Schrecken, die in jenem Winter das morsche Zarenreich heimsuchten. Weil aber Pierre Gilliard Zeitung las, wusste er Bescheid über die Streiks und blutig niedergeschlagenen Hungerrevolten im kalten Norden Russlands, über die Massaker, die obrigkeitlich angezettelten Judenpogrome und die Meuterei auf dem Panzerkreuzer Potemkin sowie den Krieg gegen Japan, in dem mit industrieller Mechanik Hunderttausende von Menschen hingeschlachtet wurden.
Gilliards einziger Schüler war der vierzehnjährige Sergej de Beauharnais, achter Herzog von Leuchtenberg und Ururenkel Joséphines de Beauharnais, der Ehefrau Kaiser Napoleons, die mit
Weitere Kostenlose Bücher