Himmelsstürmer - Capus, A: Himmelsstürmer
de Bragance von Marseille nach Algerien. Sie gingen in einer Kleinstadt namens Bône an Land, die damals, nach sechzig Jahren Kolonisierung, äußerlich eine typisch französische Kleinstadt war, mit einem breiten Boulevard und einem eleganten Hotel, einem platanenumsäumten Platz vor dem Rathaus sowie jenen Banken und Boulangerien, Charcuterien, Epicerien und Quinquaillerien, die das französische Bürgertum fürs eigene Wohlbefinden nun mal benötigt. Das war aber nicht der Orient, den Nathalia und Isabelle sich erträumt hatten. Nach einem Streit mit der Ehefrau des Fotografen verließen sie das Franzosenviertel und mieteten in der arabischen Altstadt, mitten in der fünfhundert Jahre alten Kasba, zwei Zimmer mit Blick auf belebte Innenhöfe.
Binnen weniger Wochen fand Isabelle in Algerien jene Heimat, die sie als russisches Genfer Flüchtlingskind zeitlebens vermisst hatte. Sie pflegte ihre Mutter, die sehr krank war, und unternahm ausgedehnte Spaziergänge durch die sommerlich heiße Stadt. Um sich frei bewegen zu können, legte sie ihre europäischen Kleider ab und kleidete sich als arabischer Mann in einen langen weißen Burnus, schor sich den Kopf, setzte einen Turban auf und nannte sich fortan Si Mahmoud Saadi. Sie lernte rasch das algerische Arabisch und fand Freunde unter den einheimischen Studenten, denen sie weismachte, sie sei ein junger Türke, der aus einem französischen Internat ausgerissen sei und nun reise, um den Islam zu studieren. Mit ihnen saß und lag sie ganze Nachmittage und Abende auf geflochtenen Matten vor den Cafés, trank Minzetee und Absinth und rauchte Haschisch aus der Wasserpfeife, ließ sich mit orientalischer Gelassenheit vom Strom der Zeit tragen und genoss das Gefühl, eins zu sein mit den Menschen, der Welt und dem einen, allumfassenden Gott. Im Sommer 1897 konvertierte sie zum Islam und hielt von da an dessen Rituale peinlich genau ein: die Fastenzeiten, die Waschungen, die täglichen fünf Gebete in der Moschee, auf der Straße oder unterwegs in der Wüste. Sie schminkte ihre Hände mit Henna und trug knallrote Lederstiefel, und wenn sie es sich leisten konnte, hüllte sie sich gern kräftig in orientalisch süßes Parfüm.
Nur ihre wüste Sauferei verstieß gegen die Gebote Mohammeds, und ihre Promiskuität.«Wenn ihr ein Mann gefiel, nahm sie ihn einfach», erzählte fünfzig Jahre später eine Französin, die in Algerien mit Isabelle befreundet gewesen war.«Sie gab ihm ein Zeichen, und weg waren sie. Ein Geheimnis hat sie daraus nie gemacht, weshalb auch?»Den Freunden, Liebhabern und später ihrem Ehemann berichtete sie stets mit entwaffnender Offenheit über ihre Abenteuer.«Dreifache Narren sind jene, die behaupten, die Wollust der Liebe zu verachten», schrieb sie,«diesen verwirrenden, unerklärlichen Rausch, der für kurze, ach viel zu kurze Augenblicke allen Schmerz und alle Ängste vergessen lässt … Greise sind das, Eunuchen oder verlogene Pharisäer – dies vor allem.»
So flossen die Wochen und Monate dahin. Während der heißen Nachmittagsstunden schrieb Isabelle eine lange Erzählung über die unmögliche Liebe zwischen einem französischen Offizier und einer jungen Beduinin namens Jasmina; am Schluss verleugnet er sie, und Jasmina stirbt vor Kummer. Dann kam der Herbst, der Wind peitschte das graue Wasser des Mittelmeers gegen die Hafenmauer. Die Studenten lagen nun nicht mehr im Freien, sondern zogen sich ins Innere der Cafés zurück. Als Isabelle am 28. November auf dem Heimweg war, hörte sie von Weitem das Wehklagen trauernder Frauen. Die Stimmen kamen aus ihrem Viertel, aus ihrer Straße, ihrem Haus, ihrer Wohnung – ihre Mutter Nathalia war an Herzversagen gestorben, mit neunundfünfzig Jahren.
Isabelle war untröstlich. Sie verbarrikadierte sich in ihrem Zimmer und schrieb viele Dutzend Tagebuchseiten voll mit Betrachtungen ihres bitteren Schicksals und der Leere ihrer Existenz. Dann kam der Tag im Februar 1898, an dem sie ohne Ankündigung aus dem Haus trat, auf dem Viehmarkt ein Pferd kaufte und im Galopp aus der Stadt hinaus südwärts ritt, ins Atlasgebirge und der Sahara entgegen. Erstmals in ihrem einundzwanzigjährigen Leben allein auf eigene Faust unterwegs, entdeckte sie die Welt, die ihr für immer zur Heimat werden sollte: die Wüste, die Oasen, die Nomaden und die Stille, die zeitlose Ruhe, die endlose Weite. Drei Wochen war sie mit ekstatischer Begeisterung unterwegs, dann fand die Reise ein abruptes Ende. Die Hotels waren
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