Himmelsstürmer - Capus, A: Himmelsstürmer
Marie Grosholtz im Gefängnis gesessen hatte. Ob er ein guter Schüler war, weiß man nicht, aber mit dem Hauslehrer scheinen die Leuchtenbergs zufrieden gewesen zu sein; jedenfalls nahmen sie ihn mit, als sie Anfang Juni 1905 in dreitägiger Eisenbahnfahrt zu ihrem Sommersitz in Peterhof, dem russischen Versailles vor den Toren Sankt Petersburgs, fuhren. Und weil Sergejs Mutter eng mit Zarin Alexandra befreundet war, wurde Pierre Gilliard der Herrscherfamilie vorgestellt.
Zar Nikolaus II. ließ sein Reich mit mittelalterlicher Brutalität beherrschen, aber zu Hause war er ein schüchterner und zögerlicher Mensch, der das Entscheiden am liebsten seiner Gattin überließ. Großes Glück war kürzlich über die Familie gekommen, als nach vier Töchtern endlich Alexej, der lang ersehnte Thronfolger, das Licht der Welt erblickt hatte. Wenige Monate nach der Geburt jedoch hatte sich herausgestellt, dass der Stammhalter an der Bluterkrankheit litt, ein Erbe Königin Victorias von England, seiner Urgroßmutter mütterlicherseits. Da jedes Nasenbluten, jeder Schnitt in den Finger und jede Prellung seinen Tod bedeuten konnte, wurde er rund um die Uhr buchstäblich auf Händen getragen und strengstens überwacht. Weil sich die Krankheit immer nur von der Mutter auf den Sohn überträgt, waren seine Schwestern Olga, Tatjana, Anastasja und Maria gesund und fröhlich. Sie spielten Puppentheater, fuhren Dreirad in den unendlichen Fluren des Palasts und liefen um die Wette im Park, der so weitläufig war, dass sie nichts zu wissen brauchten von dessen hoher Umzäunung, die von der Leibwache unauffällig, aber streng bewacht wurde.
Wie es sich ergab, suchten die Romanows in jenem Sommer 1905 für die zehnjährige Olga und die achtjährige Tatjana, deren Französisch noch sehr holprig war, einen Französischlehrer. Und da Pierre Gilliard mit Sergej als einzigem Schüler nicht ausgelastet war, boten ihm Zarin Alexandra und Herzogin Anastasia von Leuchtenberg an, für beide Familien zu arbeiten. Er fuhr für einen kurzen Urlaub heim nach Lausanne, nahm auf unbestimmte Zeit Urlaub von der Universität und trat im September 1905 seine doppelte Lehrerstelle an.
Unglücklicherweise spielte sich in jenen Monaten im Haus der Leuchtenbergs ein hässliches Ehedrama ab, dem sich Gilliard nicht ganz entziehen konnte. Herzogin Anastasia war eine schöne Frau von siebenunddreißig Jahren und eine glühende Verehrerin des sibirischen Wanderpredigers Rasputin, der zu Berühmtheit gelangt war durch seine Fähigkeit, in seinem Schlafzimmer die Damen der guten Sankt Petersburger Gesellschaft von eingebildeten und tatsächlichen Krankheiten zu kurieren. Die Ehe der Leuchtenbergs wurde 1906 geschieden, und nur ein halbes Jahr später heiratete Anastasia – das war der Gipfel des Skandals – einen Onkel des Zaren, was zum endgültigen Bruch mit den Romanows führte. Auch Pierre Gilliard war die Affäre zuwider.«Ich empfinde heftigen Widerwillen gegen dieses bornierte Milieu, in dem ich vegetiere», schrieb er seiner Mutter am 22. Januar 1907,«gegen dieses künstliche, erdrückende Leben mit all seinen Intrigen und Petitessen, seinen Hässlichkeiten und Niedrigkeiten.»Und weil er in beiden Häusern von Berufs wegen ein und aus gehen musste, wurde er zeitweise zum Spielball dieser Petitessen und Niedrigkeiten. So unternahm seine Brotherrin nach dem Zerwürfnis mit den Romanows alles, ihn von den Zarentöchtern fernzuhalten. Ab Juli 1907 hatte er kein Pferd mehr und musste die vier Kilometer zwischen dem Anwesen der Leuchtenbergs und jenem der Romanows zu Fuß laufen. Im Mai 1908 verlangte sie von ihm, dass er in sechstägiger Bahnfahrt von Sankt Petersburg ans Schwarze Meer und wieder zurück fuhr, nur um zwei zusätzlich engagierte Lehrer abzuholen, wofür er bei der Zarin eine Dispens einholen musste, welche diese ihm nur stirnrunzelnd gewährte. Die Lage verbesserte sich erst 1909, als auch die zwei jüngeren Zarentöchter Anastasia und Maria ins unterrichtsfähige Alter kamen und Zarin Alexandra beschloss, Gilliard exklusiv in ihre Dienste zu nehmen.
Nunmehr allein den Romanows unterstellt, war er der bestbezahlte Lehrer Russlands, wenn nicht der ganzen Welt. Er hatte eine eigene Wohnung in Sankt Petersburg, einen Domestiken für seinen Haushalt und eine Kalesche, mit der er an fünf Tagen die Woche zum Zarenpalast fuhr. Der Unterricht dauerte von neun bis elf Uhr, dann ging man eine Stunde im Schlosspark spazieren; vor dem Mittagessen folgte
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