Himmelsstürmer - Capus, A: Himmelsstürmer
war tödlich beleidigt. Für ihn lag es auf der Hand, dass die Philosophen ein Komplott gegen ihn geschmiedet hatten. Überhaupt sah er sich ständig von Feinden umringt. Sämtliche Verleger Großbritanniens steckten unter einer Decke, um ihn zu boykottieren. Die Geheimpolizei war wegen seiner politischen Ideen hinter ihm her. Der Zoll hielt seine Schriften zurück, um ihn mundtot zu machen.
Im Sommer 1776 kehrte er zurück nach Paris, diesmal aber nicht als namenloser Student, sondern als erfahrener Arzt, dem ein guter Ruf vorauseilte. Sehr zupass kam ihm, dass er eine seiner ersten Pariser Patientinnen, die einflussreiche Marquise de l’Aubespine, von einer hartnäckigen Bronchitis befreien konnte. Sofort hatte Marat mehr adligen Zustrom, als er bewältigen konnte. Und als ihn der Graf d’Artois, ein Enkel Ludwigs XV. und künftiger König Karl X., gar zum Arzt seiner Leibgarde machte und ihm eine Pension von jährlich zweitausend Livres ausrichtete, hatte er keine Geldsorgen mehr.
So kam es, dass der schief gewachsene Sohn eines sardischen Mönchs aus Neuenburg im vornehmen Viertel Saint-Germain an der Rive Gauche Wohnsitz nahm, in unmittelbarer Nachbarschaft zum Grafen d’Artois und der Marquise de l’Aubespine. Er kurierte Prinzen und Grafen und bezog fürstliche Honorare. Seine übrige Zeit verbrachte er mit wissenschaftlichen Experimenten, wie sie damals Mode waren, in seinem Labor, das er im Haus der Marquise hatte einrichten dürfen. Mit einem selbst entworfenen Mikroskop bündelte er das Sonnenlicht und verfertigte Schattenbilder von Feuer, Rauch und warmer Luft. Jahrelang beschäftigten ihn Experimente mit Elektrizität, die zur Hauptsache darin bestanden, dass er Rinderviertel und halbe Schweine, die er vom Schlachthof nebenan auslieh, unter Strom setzte, um das tote Fleisch in spastische Zuckungen zu versetzen.
Nach sechs Jahren als Arzt in Paris hatte er genug Geld verdient, um sich ganz der Forschung widmen zu können. Benjamin Franklin besuchte ihn im Labor, ebenso Alessandro Volta, der Erfinder der elektrischen Batterie, und seine Aufsätze zur Farbenlehre wurden von Johann Wolfgang von Goethe gelesen.
Aber Diderot und die Akademie verweigerten ihm weiter jede Aussicht auf Ruhm und Ehre im Wissenschaftsbetrieb. Marat war fünfundvierzig Jahre alt und hatte nichts erreicht. Seine Hautkrankheit quälte ihn mehr denn je. Er hatte nie geheiratet und keine Kinder gezeugt, und nach einigen Jahren Forschungsarbeit ging ihm das Geld aus. Seine Kräfte ließen nach, er wurde schwermütig. Im Juli 1788 war er so krank, dass er sein Testament machte. Falls er in jenen Tagen gestorben wäre, hätte ihn die Menschheit zu Recht als guten Tripperdoktor und mittelmäßigen Wissenschaftler vergessen.
Aber während er sich zum Sterben hinlegte, geschah es, dass der König die Generalstände einberief – zum ersten Mal seit hundertfünfundsiebzig Jahren.«Diese Nachricht hatte auf mich die belebendste Wirkung», schrieb Marat kurz darauf.«Eben noch auf dem Sterbebett, fasste ich wieder Kraft und Lebensmut.»
Die Revolution – das war nun endlich Marats wahre Aufgabe, für die er den Rest seines Lebens hingeben wollte. Tag und Nacht schrieb er Pamphlete und füllte damit ganze Zeitungen, prangerte die Machenschaften des Königs an und forderte den Rücktritt des Finanzministers, warnte vor dem Gegenschlag des Adels und rief das Volk in immer schrillerem Ton zu revolutionärer Wachsamkeit auf. Zwei Monate nach dem Sturm auf die Bastille gründete er seine eigene Zeitung, den Ami du Peuple , deren einziger Reporter, Redakteur und Drucker er meist war. Nach nur wenigen Ausgaben kannte den Ami du Peuple ganz Paris, und auch Marat selbst wurde nun«Der Freund des Volkes»genannt. Das einfache Volk liebte ihn für seine Aufrichtigkeit und Unbestechlichkeit, und weil er immer lauter, schriller und radikaler zum Volksaufstand rief, fürchtete der Adel den«hergelaufenen Schweizer»als den gefährlichsten von allen Revolutionären. Marat war die Stimme des Volkes. Er nannte den König einen Parasiten und den Finanzminister einen Halunken. Besonders scharf ging er mit den adligen Salonrevolutionären, denen nur das eigene Wohl am Herzen lag, ins Gericht. Und das Volk hörte auf ihn: Als der Ami du Peuple schrieb, der König wolle aus Versailles ins Ausland fliehen, um mit dem Preußenkönig und dem Kaiser von Österreich gemeinsame Sache gegen die Revolution zu machen, zogen Hunderte empörter Marktfrauen mit
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