Himmelsstürmer: Mein Leben im freien Fall (German Edition)
und mein Kopf war vollkommen leer bis auf den Gedanken an den Ruck, den der festgebundene Pilot Chute verursachen würde. Es kam mir wie eine halbe Ewigkeit vor, bis ich ihn spürte. Der Hauptschirm wurde herausgezogen, entfaltete sich, und schon zog ich an der rechten Steuerleine, um über das Besuchergeländer zu kommen. Jeder Meter zählte, man sieht an den Fotoaufnahmen, wie knapp es war. Hätte der Schirm einen Tick länger gebraucht, hätte ich mir alles gebrochen oder Schlimmeres. Mit ordentlich Schwung segelte ich denkbar knapp über das Geländer, und dann ging es 700 Meter runter Richtung Landeplatz. Es war kurz nach sieben am Morgen in Rio de Janeiro, und ich wusste: Du hast gerade den geilsten Sprung überhaupt gemacht! Jetzt können sie dich maximal noch einsperren oder eine Geldstrafe verhängen. Aber den Sprung, dieses majestätische Bild, das kann dir keiner mehr nehmen.
Die drei, vier Minuten, die ich bis zu meiner Landung in einem Park mit riesigen Grünflächen und Palmen flog, waren von einem unbeschreiblichen Freiheitsgefühl begleitet. Nach meiner Landung wurde es dafür umso hektischer, weil ich ins sogenannte Fluchtauto springen musste, das mit durchdrehenden Reifen losfuhr. Das hätte es vielleicht nicht mehr unbedingt gebraucht, aber es war das Tüpfelchen auf dem i eines spektakulären Sprungs.
Zurück im Hotel, war ich müde wie nach einem Triathlon. Der ganze Stress fiel von mir ab. Bei den Petronas Twin Towers hatte ich nicht diesen seltsamen Das-könnte-dein-letzter-Sprung-sein-Gedanken gehabt. Mit 470 Metern Fallhöhe war das keine große Aufgabe gewesen, ein einfacher Base-Sprung. Beim Jesus-Sprung hing mein Leben von einer einzigen Sekunde ab. Wenn der Schirm nicht rechtzeitig aufging, saß ich im Rollstuhl oder war tot. Es war das bis zu diesem Zeitpunkt lebensgefährlichste meiner Projekte gewesen, das Projekt mit dem geringsten Sicherheitspolster. Sogar ein Testament hatte ich vor dem Sprung verfasst, in dem ich festhielt, dass mein Körper eingeäschert werden und die Asche über der Drachenwand in Mondsee verstreut werden sollte und mein bester Freund Hubert Greinöcker mein KTM -Motorrad und meinen Mercedes-Bus erben würde.
*
Der Sprung in den Mamet Cave, eine Höhle im kroatischen Velebitgebirge, im Jahre 2004 war für mich ein weiterer Schritt in der Auseinandersetzung mit meinen Ängsten und meinem Wunsch nach absoluter Kontrolle. Bis dahin basierten alle Sprünge und Projekte auf meinen Sinneseindrücken. Mein Auge nimmt etwas wahr, dementsprechend treffe ich eine Entscheidung. Etwas nicht sehen oder einschätzen zu können bereitet Angst. Die Dunkelheit macht dem Menschen immer Angst. Kommt da wer? Ist da wer? Steht da jemand neben mir?
Die Leute haben mich immer gefragt, ob ich bei meinen Sprüngen einen Höhenmesser benutzen würde, aber der wäre mir viel zu ungenau. Ein geschultes Auge ist ein wesentlich präziseres Messinstrument. Bei allen Sprüngen, bei denen ich den Schirm erst sehr tief öffnen durfte, brauchte ich als Bezugspunkte immer Menschen am Boden. Schnee oder Wasser war schwierig, aber bei Menschen wusste ich immer genau: Die werden ab einer gewissen Höhe plötzlich schlagartig größer. Wenn ich die T -Shirt-Farbe erkenne, wird es Zeit, den Schirm zu öffnen. Früher habe ich manchmal im Spaß gesagt: »Ich ziehe die Leine erst, wenn ich erkennen kann, ob einer süßen oder scharfen Senf auf seinem Würstchenteller hat.«
Doch am Höhlenrand des Mamet Cave waren meine Augen nutzlos. Es fehlte etwas, auf das ich jahrelang vertraut habe: die Sicht. Als würdest du mit einem Auto Vollgas mit 180 Stundenkilometern in einen komplett schwarzen Tunnel hineinrasen und wissen: Irgendwo in diesem Tunnel steht ein liegen gebliebenes Fahrzeug! Ich musste einen anderen Weg finden, damit ich wusste, wann der Moment da war, um die Leine zu ziehen. Am Anfang hatte ich mir überlegt, die Höhle auszuleuchten. Doch das hätte die Natürlichkeit zerstört, das Mystische dieses Ortes wäre weg gewesen. Dann kam mir die Idee mit dem Countdown. Eine Stimme müsste mir über Kopfhörer ins Ohr sprechen: »Schirm öffnen in fünf, vier, drei, zwei, eins!« Wobei am Schluss des Countdowns ein hochfrequenter Ton erklingen sollte, damit ich den richtigen Moment im Lärm der Fallgeräusche nicht verpassen konnte.
Ich fuhr nach Klagenfurt zu einem Kumpel, der ein Tonstudio hatte, und sagte: »Lass mal ein paar Töne hören, die richtig wehtun im Ohr!« Zwei Stunden später
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