Himmelsstürmer: Mein Leben im freien Fall (German Edition)
gehörten Geräuschen. Wir konnten weder Karten spielen noch essen und versuchten vergeblich, ein bisschen Schlaf zu bekommen. Dazu legten wir uns auf schräg gewachsene Bäume, an die wir uns mit einem Gürtel fixierten, um nicht runterzufallen. So verbrachten wir die halbe Nacht, bis es gegen zwei Uhr früh anfing zu regnen. Tack , tack , tack , hörten wir den Regen auf den Blättern. Auch das noch. Ein Sprung im Regen war unmöglich. Hinzu kam, dass die Kameraleute so was natürlich nicht gewohnt waren und zu motzen begannen: »Für so einen Scheiß werden wir nicht bezahlt.«
Dieses Szenario wiederholte sich vier- oder fünfmal. Jedes Mal der gleiche Horror: abends um sechs los, morgens um acht patschnass zurück. Irgendwann nahmen wir ein paar mehr Müllsäcke mit, damit wir nicht komplett durchnässt wurden. Wir lagen in diesen schwarzen Plastiksäcken, mit ein paar Löchern zum Atmen drin – und irgendwann ging es wieder los: tack , tack , tack . Wieder nichts. Das hat sich tief in mein Gedächtnis eingebrannt: Es ist kalt und nass, du liegst auf dem Baum, es tut weh, und du weißt schon: Es klappt wieder nicht.
Und dann gab es auch noch Geldprobleme. Die Kameraleute hatten aus irgendeinem Grund ihre Vorauszahlung nicht bekommen und drohten mit Boykott: »Bevor das Geld nicht da ist, drehen wir nicht weiter.« An diesem Tag war natürlich Traumwetter, kein Regen weit und breit – und ich hatte kein Kamerateam mehr. Ich fuhr zum Chef des AUSLANDSS tudios in Rio, erzählte ihm von meinem Lebenstraum und versuchte, ihn für mich und unser Projekt zu begeistern. Tatsächlich bestellte er kurz darauf die Kameramänner zu sich, stellte ihnen einen Zuschlag für die erschwerten Arbeitsbedingungen in Aussicht, und siehe da: Die Truppe war wieder im Boot. Wieder mal waren Psychologie und Durchhaltevermögen entscheidend. Es war ja nicht so, dass ich keine Selbstzweifel gehabt hätte. Bei all meinen Projekten hat es Zweifler gegeben, die ich eines Besseren belehrt habe. Und mit jedem gelungenen Projekt schwinden die Selbstzweifel zugunsten eines irrsinnigen Selbstvertrauens: Ich hab’s immer geschafft. Ich muss es einfach perfekt planen und wieder das Letzte geben, auf der Hut sein, clever sein, dann geht auch das wieder.
In der nächsten Nacht saßen wir abermals im Regenwald, in unseren Müllsäcken, es wurde zwei Uhr, und es gab immer noch keinen Wind, keinen Regen. Da spürte ich: Okay, jetzt kann es was werden. Nach den vielen Rückschlägen begann ich, mir den Ablauf des Sprungs wieder in den Kopf zu rufen, wieder alles hervorzuholen, was unter dem Frust begraben lag. Und dann schoss ich um vier Uhr früh tatsächlich den ersten Pfeil nach oben. Ich wusste: Von diesem Pfeil hängt jetzt sehr viel ab. Es war zwar noch stockfinster, die Statue war aber hell erleuchtet. Einen kurzen Augenblick konnte ich dem Pfeil mit den Augen folgen, dann verschwand er in der dunklen Nacht, und ich hörte nur noch, wie sich die Schnur abspulte. Irgendwann merkte ich, dass die Zugkraft des Pfeils nachließ, und ich wusste: Jetzt ist der höchste Punkt erreicht, jetzt muss er gleich wieder runterkommen – und im nächsten Moment schlug das Geschoss auf der Besucherplattform auf, auf der anderen Seite des Arms. Ich konnte es kaum glauben. Es hatte funktioniert, der erste Schuss ein Treffer!
Das Ziel dieses Marathonprojektes rückte näher: dieses Bild, das mich unsterblich machen sollte. Das die Leute anschauen und sagen: »Wow, was für ein Bild.« Ich wusste: Das ist ein Bild für die Ewigkeit. Es ist merkwürdig, aber ich wollte der Welt schon immer etwas hinterlassen. Ich fand den Gedanken schon immer schlimm, dass ein Mensch stirbt und nichts von ihm bleibt. Wir kommen, und wir gehen. Deine eigenen Leute erinnern sich noch an dich, aber der Rest sagt: »Kenn ich nicht.« Menschen, die etwas hinterlassen haben, von denen wird immer gesprochen, die sind quasi noch immer unter uns: Edmund Hillary, Neil Armstrong, Dennis Hopper. Das war immer in meinem Kopf, das wollte ich auch haben. Das Bild vor den Türmen der Petronas Twin Towers habe ich nicht als Bild für die Ewigkeit gesehen. Aber ein Mensch, der auf der rechten Hand der Jesus-Statue von Rio steht, das war meine erste große Chance für diese Art von Unsterblichkeit, die mir immer sehr, sehr wichtig war.
Und jetzt war ich kurz davor. Ganz vorsichtig zog ich die Seile nacheinander über den Jesus-Arm und wusste: Jetzt konnte fast nichts mehr schiefgehen. Na ja,
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