Himmelsstürmer: Mein Leben im freien Fall (German Edition)
Manchmal musst du auch streiten können. Ich will zwar nicht streiten, aber manchmal braucht es einen Befreiungsschlag. Dabei stand ich vielleicht gerade vor dem nächsten Test – und hatte noch 180 Puls wegen der Streiterei. Das war vielleicht das Schlimmste an Stratos: diese ungeheuerliche Doppelbelastung als Athlet und Troubleshooter. Die Leute, die eigentlich meine Freunde waren und mit denen ich gut arbeiten konnte, musste ich immer mal wieder ordentlich zusammenstauchen. Dann war zwei Stunden lang miese Stimmung – und gleichzeitig brauchte ich all diese Leute ja wieder, für den nächsten Schritt. Das waren alles Energieräuber. Man braucht sich auf, und da ist es ganz schwer, den Fokus wiederzufinden. Nach zwei Stunden Diskussion sollst du dann wieder rein in den Helm, wieder dasitzen, den Schalter umlegen und sagen: Okay, das ist mein Cockpit, da sind meine Knöpfe …
Ich war selbst überrascht, wie oft ich in solchen Momenten an meine Mutter denken musste und an ihre Aufgaben als Hausfrau. Wäsche waschen, sich um zwei Kinder kümmern, Buchhaltung, Essen für meinen Vater, Essen für mich, weil wir nie das Gleiche gegessen haben. Am nächsten Tag das gleiche Programm, und keinen Tag in der Woche frei. Mit Kindern gibt es keinen freien Tag, im Gegenteil: Der eine hat Masern, der andere Zahnschmerzen – und immer noch eine Challenge dazu. Ich habe allerhöchsten Respekt vor allen Hausfrauen und deren Managementqualitäten. Und dieses Gefühl, in einer ewig fordernden Tretmühle zu stecken, die jeden Tag neue Probleme und Herausforderungen zutage fördert, dieses Gefühl verfolgte mich während des gesamten Stratos-Projekts.
Walk the line
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Baumgartner auf dem Weg zu seinem ersten Weltrekord.
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Baumgartner an der Startrampe zum Rennen
Man versus Machine.
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Therapie in Lancaster und eine Zwangspause für Stratos
An Andy Walshe und dem Sportpsychologen Mike Gervais hängt in den nächsten Tagen und Wochen einfach alles. Sie treten immer gemeinsam auf. Ihre Aufgabe: dafür zu sorgen, dass ich es in dem verfluchten Druckanzug aushalte, und zwar dauerhaft, nicht nur für ein paar geschummelte Minuten. Unser Ziel: die Tests in der Air-Force-Basis Brooks zu bestehen. Der Zeitrahmen: vier Wochen. Verdammt wenig Zeit. Parallel zur psychologischen Arbeit mit mir, dem Piloten in spe, muss gemeinsam mit dem Stratos-Team am eigentlichen Projekt Überschallflug gearbeitet werden.
Nach einer Woche werden wir wissen, ob es in die richtige Richtung geht. Wenn nicht, haben wir den worst case und müssen Brooks absagen. Keine Ahnung, was dann mit mir und dem Projekt Stratos geschieht. Aber ich bin extrem motiviert. Vor dem Team habe ich mich geoutet, mein Geheimnis ist seit drei Monaten gelüftet, und nun haben wir mit Andy und Mike zwei neue Leute im Team, denen ich vertraue, bei denen ich das Gefühl habe: Es passt.
Meine Anzugtherapie beginnt im Ankleideraum. Mike schickt mich ausgerechnet in den Raum, in dem ich angefangen habe, den Anzug zu hassen. In den Raum, wo mir Mike Todd immer den Anzug angezogen hat, wo die drei Anzüge, die Ersatzteile und die Messgeräte aufbewahrt werden. Mein Hassraum. Mike Gervais fragt mich: »Was genau ist dein Problem?« Ich erzähle ihm von meinem Gefühl, dass dieser Anzug wie ein Gefängnis sei, dass ich Panik habe, zu wenig Luft zu bekommen, und von diesem ekligen Gummigeruch. Daraufhin schnallt er mir einen Pulsgurt um und sagt: »Okay, ich will jetzt gleich mal, dass du den Helm aufsetzt. Nur den Helm, ohne Anzug. Zwanzig Minuten lang, und du beschreibst mir dabei, wie es dir geht. Von Level eins bis zehn. Eins heißt, du bist absolut relaxed, zehn heißt, du bekommst Panik und musst unbedingt raus.« Und los geht’s: Helm auf, Visier runter, dann Sauerstoff. Wenn ich das Visier unten habe, muss Sauerstoff eingespeist werden, sonst ersticke ich da drin. Sofort merke ich, es ist ein gewaltiger Unterschied, ob ich mit Helm dasitze oder im kompletten Anzug. Im Anzug bin ich hermetisch abgeriegelt. Wenn ich aber ein gewisses Gefühl von Freiheit habe und zumindest die Finger frei bewegen kann, hilft das schon ein bisschen.
Ich sitze auf dem sogenannten Pre-Breathing-Chair, und Mike fragt: »Wie fühlst du dich?« Ich beschreibe ihm meinen Gefühlszustand, offen und ehrlich: »Jetzt weiß ich wieder, warum ich das so hasse. Und ich weiß auch, dass irgendwann der Moment kommt, an dem ich nur noch raus will.« Ich weiß, dass wir offen reden können, dass ich meine Angst
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