Himmelsstürmer: Mein Leben im freien Fall (German Edition)
man so dasitzt, die Ärmel hoch, frische Luft. Aber wenn man das nicht mehr hat, wenn man in diesem Anzug sitzt, dann spürt man auf einmal diese Eifersucht auf die normalen Dinge des Lebens. Und jetzt kommt dieser Psychologe einfach her und sagt: »Hier drinnen musst du nicht unbedingt mit Taucherflossen und Taucherbrille sitzen. Aber wenn du draußen in den See springst, bist du froh darüber. Dann siehst du was unter Wasser, kannst atmen unter Wasser, bewegst dich schneller. Und genau so ist es mit deinem Anzug auch, wenn du erst mal da oben in der Stratosphäre bist.«
Mike hat es also geschafft, eine Veränderung in meinem Kopf auszulösen. Als Nächstes stellt er mir folgende Aufgabe: »Mich würde mal interessieren, wie du deinem Sohn erklären würdest, was gerade passiert. Stell dir vor, du hättest einen Sohn. Du arbeitest an einem Projekt, du bist Base-Springer, du hast zwanzig Jahre lang erfolgreich Projekte gemacht. Jetzt hast du dir ein großes Abschlussprojekt vorgenommen und drohst, an der Hürde Anzug zu scheitern. Dein Team glaubt nicht mehr ernsthaft an dich, dein Sponsor weiß nicht so recht: Sollen wir das machen, sollen wir das nicht machen? Und du selbst bist dir auch nicht ganz im Klaren, wie es weitergehen soll. Du willst zwar, weißt aber nicht, ob du kannst. Wie würdest du deinem Sohn das erklären?«
Mike und ich kennen uns zu diesem Zeitpunkt vier oder fünf Tage, haben nach der kurzen Zeit noch kein richtig tiefes Vertrauensverhältnis, und ich soll vor diesem fast fremden Menschen über meine Gefühle zu meinem imaginären Sohn sprechen? Ich komme mir vor wie ein Schauspieler, der sich plötzlich am Boden wälzen muss, und es stehen zig Kameraleute da, jeder lacht. Hier ist es genauso: Ich spreche jetzt mit meinem Sohn und erkläre ihm die Sache mit dem Anzug. Lachhaft.
»Also, ich würde ihm sagen, dass …«
Sofort fällt mir Mike ins Wort: »Nein, nein. Nicht: Ich würde sagen … Sprich zu ihm. Stell dir vor, in dem Sessel da sitzt dein Sohn. Sprich zu deinem Sohn!«
»Das ist jetzt ein Scherz, oder? Willst du wirklich, dass ich mit dem Sessel da rede?«, frage ich entgeistert.
Und Mike sagt: »Frag nicht immer. Mach einfach. Hab Vertrauen.«
»Okay, das kann ich schon machen.« Also fange ich an, mit dem Sessel zu reden, in dem mein fiktiver Sohn sitzt.
Das Verrückte ist, ich kann mich an kein Wort von dem erinnern, was ich erzählt habe. Ich habe es komplett in meiner Erinnerung gelöscht. Ich weiß nur noch, dass ich ein Gespräch mit einem Sohn geführt habe, den es nicht gibt. Das halte ich Mike und Andy heute noch vor: »Das war eine der schlimmsten Sachen, die ihr mit mir gemacht habt.« Ihre Antwort verblüfft mich jedes Mal: »Ja, aber es ging dabei überhaupt nicht darum, was du erklärst. Es ging nur um eines: Bist du bereit, auch so etwas Abwegiges zu machen? Wir müssen ja wissen: Wie bereit ist der Felix eigentlich? Wie sehr willst du alles geben? Das war einfach ein Test. Ein Seelenstriptease.« Wenn ich zu den beiden gesagt hätte: »So einen Scheiß mache ich nicht. Nächste Frage!«, dann hätten sie gewusst: »Aha, der ist nicht bereit, alles zu geben. Wir haben nicht von ihm verlangt, sich den kleinen Finger abzuschneiden oder so etwas. Er sollte nur seinem kleinen Sohn etwas erklären. Und schon das macht er nicht. Vielleicht ist er noch nicht ganz unten. Oder er wird schon wieder frech und sagt sich: Das pack ich ohne euch auch. Beim letzten Mal habe ich schon eine Stunde im Anzug geschafft. Ich brauche euch nicht mehr.« Es ging also nur darum, einen weiteren Test zu bestehen.
Langsam entwickelt sich zwischen uns ein freundschaftliches Verhältnis. Am Anfang sind die beiden zwei Psychologen gewesen, die ich gern mochte. Aber es waren nicht meine Freunde. Andy ist Mitte 40, Mike um die 30. Mike schaut aus wie Tom Cruise: Rolex-Uhr, V -Pullover, ein aufstrebender Psychologe. Einfach ein guter Typ. Er hat etwas Forderndes, weiß aber auch, wann er wieder Gas rausnehmen muss. Mit ihren psychologischen Tricks haben Mike und Andy schon den besten Athleten der Welt geholfen. Da waren einsichtige Typen dabei, aber auch völlig beratungsresistente Persönlichkeiten. Für jede Art von Charakter haben sie gewisse Methoden und Mechanismen entwickelt. Bei mir arbeiten sie auch mit ihrer Körperhaltung, lehnen sich betont entspannt im Sessel zurück und sagen: »So, komm, jetzt erzähl mir mal was aus deinem Leben!« Ich fühle mich sofort eingeladen. Aber was
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