Himmelsstürmer: Mein Leben im freien Fall (German Edition)
genau ich dann erzähle? Keine Ahnung. Das habe ich gleich wieder abgehakt. Da war so viel Peinliches dabei, das habe ich wirklich verdrängt.
An einem der folgenden Tage fragt Mike mich: »Was, glaubst du, würde passieren, wenn wir dich in den Anzug stecken, auf einen Tisch schnallen, die Tür schließen und dir sagen: Du musst da fünf Stunden liegen. Jetzt in diesem Stadium, wo du das noch nicht kannst. Was glaubst du, was passiert?«
»Ich würde nach einer halben Stunde anfangen, mich unwohl zu fühlen, nach einer Dreiviertelstunde mich richtig ungut fühlen, und nach einer Stunde drehe ich dann durch.«
»Und dann?«
»Weiß ich nicht. Wahrscheinlich möchte ich mich losreißen.«
»Aber das kannst du nicht. Die Dinger sind so fest, da kannst du dich nicht losreißen. Und es kommt keiner.«
»Ich schreie und verbrauche viel Sauerstoff, will mich befreien.«
»Ja, aber du kannst dich nicht befreien. Du kommst von dem Tisch nicht weg.«
»Vielleicht werde ich ohnmächtig oder bekomme einen Herzinfarkt.«
»Das ist exakt das, was nicht passieren würde«, widerspricht Mike mir. »Bei einem gesunden Menschen gibt es immer dieses Reservoir für Panik. Das musst du dir vorstellen wie einen Benzintank im Auto. Und daraus nimmt der Körper alles, was er braucht für die Panik. Das Adrenalin fürs Schreien, für den Schweißausbruch, der Puls geht rauf. Aber irgendwann bist du so müde, dass du aufhörst, dass du dir sagst: Es hilft eh nichts. Ich kann nicht mehr. Ich habe mal mit einem Hochseesegler gesprochen. Der war drei Tage lang in einem Sturm, hatte die ganze Zeit Angst, dass er stirbt. Er hat geschrien vor Stress, richtige Panikattacken gehabt – bis er nach sieben, acht Stunden total erschöpft war und dachte: Ich kann nur noch schauen, dass ich durchsegle. Wenn ich jetzt sterben soll, dann kann ich es auch nicht ändern. Wenn das Reservoir leer ist, drosselt der Körper auf die nötigsten Funktionen ab. Er hat keine Kraft mehr, um Angst zu haben. Das ist im Krieg so, das ist so bei einem Baby, das schreit, und keiner kommt. Irgendwann hörst du auf und sagst dir: Ich muss das akzeptieren. Der Körper liefert keine Energie mehr. Das heißt: Es wird besser. Irgendwann ist die Panik vorbei«, sagt Mike und beendet dann seinen Vortrag mit den Worten: » You don’t panic to death. «
Das war mir alles gar nicht bewusst. Das hätte ich auch nie gedacht. Jeder Mensch würde aus dem Bauch heraus doch sagen: Irgendwann drehe ich durch und bekomme einen Herzinfarkt. Bestimmt 95 Prozent der Menschen glauben, dass es so ist: eine Folter bis zum Tod. Aber der Tod kommt nicht. Das alles macht mir Mike bewusst. Mein Problem kommt vom Kopf und nicht vom Körper. Aber ich weiß, dass ich auf einem guten Weg bin. Ich habe schon mal eine Stunde im Helm geschafft. Ich bin bereit, alles zu geben, habe sogar mit meinem nicht existenten Buben gesprochen. Ich weiß, dass der Zustand, vor dem ich mich fürchte, nicht schlimmer wird, sondern die Panik irgendwann vorübergeht. In diesen Tagen erreicht mich eine Karte von Nicole mit einem Zitat des amerikanischen Boxers James John Corbett, das meine Einstellung auf den Punkt bringt:
Halte durch. Wenn deine Füße so müde sind, dass du in die Mitte des Rings zurückweichen musst, kämpfe noch eine Runde! Wenn deine Arme so müde sind, dass du sie kaum mehr in die Deckung hochkriegst, kämpfe noch eine Runde! Wenn deine Nase blutet und dein Auge schon blau ist und du so müde bist, dass du dir wünschst, dass dein Gegner dir den Kiefer einschlägt und dich in die Ohnmacht befördert, kämpfe noch eine Runde! Denn der Boxer, der immer noch eine Runde weiter kämpft, wird nie geschlagen werden!
Eine große Hilfe ist auch Mikes Entspannungstechnik gegen Stress: einfach Luft anhalten, Hände und Füße so fest wie möglich zusammenpressen und nach 30 Sekunden wieder loslassen! Das bringt sofort den Puls runter, man glaubt es kaum. Mike hat mir erzählt, dass er mal einen Vortrag vor seinen ehemaligen Ausbildern halten musste, und da hatte er irrsinnig Lampenfieber. Irgendwelchen Unwissenden da draußen etwas zu erzählen, das ist einfach. Aber wenn deine Ex-Lehrer da sitzen, die sich richtig auskennen und schauen, wie du dich entwickelt hast, da stehst du vor einer ganz anderen Art von Herausforderung. Da liegt die Messlatte ein gutes Stück höher. Mike sagte: »Da habe ich dermaßen Stress gehabt, dass ich hinter der Bühne all das gemacht habe, was ich dir jetzt erzähle.«
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