Himmelsstürmer: Mein Leben im freien Fall (German Edition)
deinen Körper. Wenn es der Körper wäre, dann wären drei Wochen nicht viel Zeit. Den Kopf können wir in der Zeit aber schaffen.«
»Cool! Es ist also doch nicht so schlimm, wie ich geglaubt habe!« Ich kann mein Glück kaum fassen.
Die Vorgehensweise ist klar: reden, reden, reden. Meistens sitzen wir in unserem silbernen Trailer, am Besprechungstisch, immer zu dritt, Mike, Andy und ich. Andy ist derjenige, der gleichzeitig den Kontakt zum Team hält und, basierend auf den psychologischen Auswertungen, den nächsten Schritt einleitet. Mike ist nur für mich da. Nach und nach entwickeln wir unsere Routinen. Jeden Morgen, bevor ich in den Anzug oder die Kapsel steige, fragt mich Mike ab: »Was ist das Ziel für heute? Was war die Lektion von gestern?« Dann folgen zehn Minuten Entspannungsübungen, in denen Mike redet: »Jetzt mach die Augen zu. Stell dir vor, du bist in deiner Kapsel.« Seine Stimme ist ganz ruhig, und ich merke, wie auch ich ruhig werde. Dann sagt er: »Stell dir vor, du bist im Anzug«, und mein Puls geht schlagartig hoch. Später erklärt er mir das: »Dein Puls geht auch hoch, wenn ich dir sage: Du machst morgen den ersten Bungee-Sprung. Stell dir vor, du stehst oben, spürst den Gurt an den Beinen. Dein gestiegener Puls hat also nichts mit dem Anzug zu tun.« Allein mit seinen Worten versucht er, meinen Puls wieder runterzubringen. »Das kann schon sein, dass ich dich jetzt kurz stresse. Aber du merkst, du kriegst Sauerstoff, frischen Sauerstoff, hundert Prozent Sauerstoff. Kühl, erfrischend. Du merkst, wie der Sauerstoff aufsteigt, in deinen Kopf, wie er sich in deinen Gehirnzellen anreichert. Du spürst, wie präsent, wie wach du bist.« So geht das die ganze Zeit. Ich höre ihm zu und denke: »Ah, genau, frischer Sauerstoff. Das ist, als ob du im Winter rausgehst: Super, die Luft heute.« Dieses ewige Auf-mich-Einreden belebt meinen ganzen Körper, weil Mike die Abläufe so gut erklären kann. Er programmiert mich für die bevorstehende Aufgabe mithilfe von Visualisierungen. Und das funktioniert: Ich freue mich fast schon auf den Sauerstoff. Wenn ich früher das Visier zugeklappt habe, dann dachte ich: Jetzt bin ich isoliert in meiner kleinen Welt. Jetzt denke ich: Hurra, gleich kommt der frische Sauerstoff ! Interessant, wie sich der Fokus plötzlich verändert. Es geschehen genau dieselben Dinge, nur meine Wahrnehmung ist eine andere.
Diesem Prinzip folgt auch Mikes nächster Trick, und obwohl ich ihn durchschaue, funktioniert er: »Schau her, der Anzug. Du bist der Einzige auf der Welt, der so einen Anzug hat. Alle Astronauten bekommen ein Standardmodell. Davon gibt es drei Größen, die adaptiert werden können. Aber deiner ist maßgeschneidert. Jeder Millimeter des Anzugs ist an dich angepasst. Du bist der einzige Zivilist, der so einen Anzug besitzt. Du bist kein Astronaut, bist nicht bei der NASA , nicht bei der Air Force.« Er hört nicht auf, mir meinen Anzug schmackhaft zu machen: »Wenn du ihn trägst, unterscheidet er dich von allen anderen Menschen. Mit dem hast du Großes vor. Dort, wo du hingehst, kannst du als Mensch nicht überleben – außer du trägst diesen Anzug.« Ich merke natürlich sofort, wo die Reise hingehen soll. Aber Mike hat ja recht: »Mit dem Anzug bist du ein anderer. Der Anzug ist wie eine schöne Uniform, wie ein cooles Auto. Eins, mit dem du direkt vor der Disco parkst, nicht irgendwo hinten auf dem Parkplatz. Eins, nach dem die Leute sich umdrehen, mit dem du Frauen kennenlernst, die du ohne das Auto nicht kennenlernen würdest. So ist es auch mit dem Anzug: Er eröffnet dir den Zutritt in eine andere Welt, eine sehr limitierte Welt. Das ist ein ganz exklusiver Klub, in den du dich da einreihst. Der Anzug ist dein Freund, nicht dein Feind. Ohne den Anzug wird da oben Folgendes passieren: Dein Blut fängt an zu kochen. Das Wasser in deinem Körper beginnt zu schäumen. Blut, Augen, Schleimhäute, alles beginnt zu schäumen. Aber der Anzug verhindert das.«
Mit seiner endlosen Hymne bringt mich Mike tatsächlich so weit, dass ich zum Anzug rüberschaue und denke: Schon geil, das Ding! So hatte ich das noch nie gesehen. Ich dachte mir immer nur: Mist, jetzt muss ich wieder da rein! Alle anderen sitzen draußen, trinken Kaffee, können sich frei bewegen, und nur ich hocke hier drinnen. Trinken ist mühsam, Bewegen ist mühsam. Ich beneidete jeden Menschen außerhalb dieses Anzugs um seine Normalität. Es gibt Sachen, über die man nie nachdenkt, wenn
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