Himmelssturz
Rationierungen aufgehoben werden konnten, und vor allem die geschlossenen Kreislaufsysteme mussten weiterhin gründlich gewartet werden, aber endlich hatten Svetlanas Leute die Möglichkeit, Dinge herzustellen – und sogar Träume wahr werden zu lassen.
Auch Wang hatte Fortschritte erzielt. Jahrelang war er kaum vorangekommen, weil der Schmiedekessel beschädigt war und er seine Funktionen nur oberflächlich durchschaute. Mit penibler Hingabe war es ihm gelungen, die Hardware zu reparieren und viele der beschädigten Musterdateien im Speicher zu rekonstruieren. Außerdem hatte der Mangel an Rohstoffen seine Versuche behindert, die Maschine in den Griff zu bekommen. Doch nun konnte er nach Lust und Laune experimentieren, und endlich war er in der Lage, nützliche Komponenten herzustellen, zum Beispiel Medikamente und technische Bauteile, die tatsächlich funktionierten. Trotzdem hatte er Größeres vor. Ein einzelner Kessel wäre immer nur von eingeschränkter Nützlichkeit, vor allem, wenn die Bevölkerung wuchs. Er plante bereits, einen zweiten Kessel zu bauen, indem er die Bestandteile im ersten heranwachsen ließ. Das war schwierig, aber nicht unmöglich, wie er sagte. Danach konnte er ein paar Replikatoren aus dem ersten Kessel übernehmen, damit sie sich von selbst im zweiten vermehrten, sodass er nicht von Grund auf ein komplettes nanotechnisches System fabrizieren musste. Wenn alles nach Plan verlief, wäre der zweite Kessel eine bloße Kopie des ersten, aber wenn er ihn zum Laufen brachte, hatte er genügend Erfahrung gesammelt, um sich an eine größere Version zu wagen. Sein dritter Kessel sollte die achtfache räumliche Kapazität des ersten haben, was ihm ermöglichen würde, ein Beiboottriebwerk in einem Durchgang zu produzieren. Er dachte sogar schon daran, irgendwann einen Kessel herzustellen, der so groß wie die größten industriellen Einheiten in China waren – Giganten, groß wie Häuserblocks, die in einem Schwung ein komplettes Raumschiff schmieden, es wie ein Junges ausbrüten konnten. Svetlana fragte sich, wie weit seine Zukunftsplanung reichen mochte und ob irgendjemand anderer schon in solchen Zeiträumen vorausdachte.
Nachdem die Gesichtsbemalung abgeschlossen war, versammelten sich die Kinder um Parry, der Schokoladenstücke verteilte. Es handelte sich nicht um die gummiartige braune Masse aus dem Kessel, sondern um echte. Während der Aufräumarbeiten in einem Frachtraum war eine Kiste mit Snickers-Riegeln aufgetaucht, und nun wurde die Delikatesse unter Verschluss gehalten, streng rationiert und nur bei Partys ausgegeben. Jedes Kind erhielt nicht mehr als zwei Bissen, aber ihre angefeuerten Erwartungen waren so groß, als wären es Portionen kostbarsten Kaviars gewesen. Trotz der minimalen Menge an Schokolade war es erstaunlich, wie sehr sich die aktiveren Kinder damit einsauen konnten. Mit jedem Geburtstag wurde der Schokoladenvorrat geringer, und jedes Jahr gab es mehr Geburtstage zu feiern. Bald würden sich die Kinder an das Zeug aus dem Kessel gewöhnen müssen.
»Komm her«, sagte Christine und nahm Svetlanas Arm. »Ich möchte dir etwas zeigen, während Parry die Kinder beschäftigt.«
»Und was soll das sein?«
»Hast du die Bilder gesehen, die Wang beurteilen sollte?«
»Ein paar, aber dann musste ich gehen und die Flextops zusammenpappen.«
Christine führte sie zu einem Tisch, auf dem die Zeichnungen in ihrer feuchten Pracht ausgebreitet waren. Sie nahm eine und beschmierte sich die Finger mit gelber Farbe. »Dawn Mair hat das gemalt«, sagte sie ohne Zögern. »Ich habe sie gefragt, was es darstellen soll. Sie sagte, es sei der böse Mann.«
»Welcher böse Mann?«
»Der, von dem sie die Erwachsenen ständig reden hört.«
Svetlana sah sich das Bild an und setzte mentale Filter ein, um die unbeholfene und verschmierte Ausführung auszublenden und zu erkennen, was das Kind beabsichtigt hatte. Es gab einen gelben Himmel und einen grau-grünen Streifen aus nicht genauer bestimmbarem Boden. Darauf stand eine dürre vogelscheuchenartige Gestalt, die in düsterem Rot-Schwarz gemalt war. Die Arme des Mannes liefen in baumähnlichen Explosionen krummer schwarzer Finger aus. Das Gesicht – soweit es sich erkennen ließ – erinnerte an die langgezogene Schnauze eines Wolfes und wirkte seltsam bedrohlich. In einer skelettierten Hand hielt er etwas, das wie eine kaputte Puppe aussah und mehr schwarz als rot war.
»Ich habe keine Ahnung, wer damit gemeint sein soll«, sagte
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