Himmelssturz
Svetlana.
»Mir ging es genauso, also habe ich gefragt. Dawn sagte zunächst nur, dass es der ›böse Mann‹ sei. Als ich nach seinem Namen fragte, sagte sie etwas, das ich nicht verstand, zumindest nicht sofort. Es klang wie ›Poll‹ oder ›Paul‹. Dann machte es Klick, und ich wusste genau, was sie mir sagen wollte. Ich hatte das Gefühl, als würde meine Körpertemperatur schlagartig um zehn Grad sinken.«
»Und wer ist es?«
»Powell«, sprach Ofria den Namen langsam und genüsslich aus. »Powell Cagan.«
»Heiliger Strohsack!« Svetlana zwang sich, leiser zu sprechen. »Wie kann sie …?«
»Weil die Leute immer noch über ihn reden, Svieta. Vielleicht nicht in der Öffentlichkeit, aber in der Abgeschiedenheit ihrer Privatquartiere … schließlich ist er der Mann, dem wir den ganzen Ärger zu verdanken haben. Jeder von uns weiß das, auch wenn die meisten von uns … es geschafft haben, diese Tatsache zu akzeptieren. Wir haben hier schon genug Probleme, ohne unseren Hass auf jemanden projizieren zu müssen, der wahrscheinlich schon vor hundert Jahren gestorben ist, hoffentlich im Gefängnis, nach einer lebenslangen Haftstrafe wegen mehrfachen Totschlags, nachdem er eine unzureichende Behandlung seiner sehr schmerzhaften tödlichen Krankheit erhalten hat.«
»Aber nicht jeder sieht es so abgeklärt wie du.«
Christine zuckte die Achseln. »Er ist der neue Buhmann, der Dämon, mit dem manche Eltern ihre Kinder einzuschüchtern versuchen. Sei lieb, oder Powell wird dich holen und dich zu seiner Frau bringen.«
Svetlana schaute auf die puppenähnliche Gestalt in den Fingern des Mannes und erkannte, dass sie ein Kind darstellen sollte, das er geraubt hatte. »Seine Frau?«
»Die böse Hexe, die verrückte Alte, die draußen auf dem Eis lebt.« Christine legte Dawn Mairs Zeichnung auf den Tisch zurück und nahm eine andere zur Hand. »Schau dir das hier an. So sieht Bella aus – zumindest in Richard Fleigs Vorstellung.«
Der siebenjährige Sohn von Chieko Yamada und Carsten Fleig hatte recht überzeugend eine verrückte alte Hexe gemalt, die in einer Art rissigem eisblauem Iglu unter einem kohleschwarzen Himmel kauerte. Svetlana starrte das Bild mit kaltem Entsetzen an. Sie hatte es schon vorher gesehen, jedoch ohne die Bedeutung zu erahnen. Irgendeine Hexe, hatte sie gedacht, aber nicht ansatzweise vermutet, dass es Bella sein sollte.
»Ich habe ihnen diese Idee nicht in den Kopf gesetzt«, sagte sie, als müsste sie sich rechtfertigen. »Eigentlich sollten die Kinder gar nichts von ihr wissen.«
»Jemandem ist etwas rausgerutscht.«
»Wem?«
»Uns allen, Svieta, in den unbedachten Momenten, wenn wir vergessen, dass die Kinder in der Nähe sind. Kannst du schwören, dass du Bellas Namen niemals erwähnt hast, dass du niemals auch nur eine Andeutung gemacht hast, wenn Emily in Hörweite war?«
»Vielleicht eine Andeutung, aber …«
»Mehr brauchen die Kinder nicht. Sie schaffen sich ihre eigenen Mythen, ihre eigenen Engel und Dämonen. Dazu müssen wir ihnen nur einen winzigen Anstoß geben. Wenn sie Bella hassen und fürchten, dann tun sie es nur, weil sie unsere Sichtweise übernehmen.«
»Sie sind noch viel zu jung für Monster.«
Christine legte das noch feuchte Bild auf den Tisch zurück. Vom schwarzen Himmel lief ein tentakelgleicher Faden zu Bellas Kuppel hinunter. »Das ist nicht gesagt. In weniger als vier Jahren werden wir realen Monster begegnen. Vielleicht ist es an der Zeit, dass wir alle uns Gedanken über Monstren machen.«
Inzwischen hatten die Kinder die Schokolade aufgegessen und tobten wieder in der Sporthalle herum. Sie lachten und schrien, ließen Luftballons zerplatzen und sauten sich mit Speisen und Getränken ein. Svetlana gelang es nur mit Mühe, ihre Beunruhigung über die Bilder zu zügeln, und klatschte in die Hände, damit die Kinder ihr zuhörten. Als sie sprach, klang ihre Stimme besorgt und zurückhaltend.
»Hallo – wollt ihr einen Film sehen?«
Natürlich wollten sie. Darauf waren sie schon genauso gespannt wie auf die Schokolade. Svetlana wartete, bis sie sich vor der Flextop-Bildwand versammelt und auf die längere Phase der Konzentration, des Schweigens und der Blasenkontrolle vorbereitet hatten, die nötig waren, um den Film zu sehen.
»Wir haben diesen Film in den Archiven gefunden«, sagte Svetlana mit einem strahlenden Lächeln. »Er blieb jahrelang unbeachtet, weil er unter einem falschen Dateinamen abgespeichert wurde. Das bedeutet, dass ihn
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