Himmelssturz
Strähnen als feinere Greifwerkzeuge für Arbeiten, die ein höheres Maß an Präzision erforderten. Und sie wiesen einen höheren Grad der Spezialisierung auf. Manche waren mit feinen Härchen unterschiedlicher Länge besetzt, die es den Perückenköpfen vermutlich ermöglichten, zu hören und Frequenzen zu unterscheiden. Einige endeten in kleinen berührungsempfindlichen Knospen, die mutmaßlich ein weites Spektrum chemischer Geschmacksnoten wahrnehmen konnten. An anderen Strähnen führte eine dunkle Linie entlang, die möglicherweise das funktionale Äquivalent eines Auges darstellte. Obwohl eine einzige solche Linie nur einen eindimensionalen Schnitt der Umgebung erfassen konnte, wären die Perückenköpfe durch die ständige, sich überlappende Bewegung der zahlreichen Augensträhnen in der Lage, daraus eine komplexe visuelle Landschaft zu synthetisieren, ähnlich der Radarabtastung einer Oberfläche durch ein Raumfahrzeug im Orbit. Gelegentlich konzentrierten sie ihre Aufmerksamkeit auf ein bestimmtes Objekt, wobei sie mehrere Augensträhnen zu einem Gewebe verflochten, das etwa dreißig Zentimeter durchmaß. Dadurch schienen sie imstande zu sein, im »hochauflösenden Modus« zu sehen, wie Bellas Experten es ausgedrückt hatten.
Innerhalb des Vorhangs aus sensorischen Strähnen gab es weitere, die der Bewegung dienten, aber nur selten zu sehen waren und möglicherweise auch eine Rolle beim Austausch von genetischem Material spielten. Genau in der Mitte des Wesens schließlich befand sich ein rübenförmiger Zentralkörper, an dem sämtliche Strähnen befestigt waren und der von ihnen in zehn oder fünfzehn Zentimetern Höhe gehalten wurde. Man vermutete, dass dieser Rumpf das Zentralnervensystem der Aliens enthielt. Ein fransenbesetzter Mund am unteren Ende diente dazu, die Wesen auf den hügelförmigen Sitzgelegenheiten zu verankern, die die Perückenköpfe benutzten, um ihre Strähnen zu entspannen. Außerdem wurde spekuliert, dass der Mund zur Nahrungsaufnahme diente (vorausgesetzt, sie nahmen ihre Nährstoffe nicht direkt durch spezialisierte Strähnen auf), außerdem zur Abgabe von Exkrementen und möglicherweise, um Nachkommen zur Welt zu bringen oder Eier zu legen.
Das meiste davon waren jedoch nur Mutmaßungen. Bellas Experten kannten nicht einmal die genaue Zusammensetzung der Atmosphäre, in der die Perückenköpfe existierten, geschweige denn die biologischen Anpassungen, die es ihnen ermöglichten, darin zu existieren. Es gab keine Daten über die Position oder die physikalischen Bedingungen ihrer Heimatwelt. Genauso unbekannt war, wie viel Zeit vergangen war, seit sie sie verlassen hatten. Jeder Versuch, die Aliens zu diesen Themen zu befragen, wurde mit höflichem Schweigen oder kryptischen Aussagen beantwortet.
Vielleicht wussten es die Perückenköpfe selber nicht.
Einer von ihnen ging vor seinen zwei Artgenossen. Die entschiedene Art, mit der er auftrat, und der leicht erhöhte Rotanteil in der sensorischen Schicht ließ Bella vermuten, dass es sich um McKinley handelte. Diesen Namen hatte das Wesen selbst gewählt. Die anderen beiden waren mit hoher Wahrscheinlichkeit Kangchenjunga und Dhaulagiri, auch wenn Bella sie nicht unterscheiden konnte. Sie war sich nicht einmal sicher, was sie davon halten sollte, dass sich die Aliens irdische Berge als Namen ausgesucht hatten. War es eine ironische Anspielung auf Craig Schropes vermeintliche »Bergrücken«, oder hatte es einen völlig banalen Hintergrund? Niemand wusste es.
McKinleys Berührungssträhnen teilten sich wie ein Bühnenvorhang. Die innere Schicht strukturierte sich zu einer hochauflösenden Anordnung, die es kurz auf Bella und wenig später auf Thale richtete.
»Hallo, Bella«, sagte das Alien. »Es ist gut, dass du gekommen bist. Wir freuen uns jedes Mal über deinen Besuch. Auch über deinen, Nick.«
Die Perückenköpfe erzeugten menschliche Phoneme, indem sie Strähnen aneinander rieben und im Vorhang akustische Kammern öffneten und schlossen. Es war ein Unterfangen, das einen geisterhaften Eindruck vermittelte, wie Wind, der durch Bäume fuhr.
Bella konnte nie den Abgrund einer zutiefst fremdartigen Denkweise vergessen, die hinter der Bemühung um eine menschliche Maske lauerte.
»Vielen Dank, McKinley«, sagte sie. »Wenn Jim hier oben nicht in so guten Händen wäre, würde ich ständig hier vorbeischauen und mich nach seinem Wohlergehen erkundigen.«
McKinley löste das Geflecht auf und zog seine Sinnessträhnen
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