Himmelssturz
Geheimnisse mochte es enthalten? Und vor allem: Wie hatte es Janus erreicht?
Die Perückenköpfe hatten nie darüber gesprochen. Falls sie inzwischen von seiner Existenz wussten – durch die zahlreichen Kontakte mit Menschen –, schienen sie beschlossen zu haben, ihn nicht zu erwähnen.
Warum?
Ein neuer bösartiger Gedanke machte sich in Bellas Hinterkopf breit. Sprachen die Perückenköpfe nicht über den Würfel, weil sie keine Aufmerksamkeit auf seine Bedeutung lenken wollten?
Wieder dachte sie an ihr Gespräch mit Svetlana und an die ansteckenden Zweifel, die sie in Bellas Bewusstsein gesät hatte. Bella hatte die Perückenköpfe zum ersten Mal besucht, kurz nachdem man ihr den Würfel gezeigt hatte. Das Wissen darüber musste zu diesem Zeitpunkt noch wie ein funkelnder Edelstein in ihrem Kurzzeitgedächtnis gestrahlt haben.
Also wussten sie zweifellos davon.
Aber warum hatten sie ihn nie erwähnt?
Der Würfel setzte seine langsame, hypnotische Rotation fort und wechselte von einer Abstraktion der Schwärze zur nächsten. Die Da-Vinci-Seite kam in Sicht – der stilisierte Mensch mit ausgestreckten Armen und Beinen, als sollte er seziert werden. Die Analysemaschinen maßen und registrierten. Bella blieb hinter der roten Linie, aber gleichzeitig stellte sie sich vor, wie sie den Würfel berührte. Sie hatte ihn schon einmal berührt, als sie haptische Handschuhe getragen hatte. Sie hatte über die harten glatten Oberflächen gestrichen, die sich wie etwas angefühlt hatten, das aus dem Urgestein der Wirklichkeit geschaffen worden war. Sie hatte gespürt, wie sein unvorstellbares Alter durch die Datenkanäle gesickert war. Aber sie hatte nie den Mut aufgebracht, die Handschuhe auszuziehen und den direkten Hautkontakt zu suchen.
Plötzlich kam es ihr lebenswichtig, erdrückend notwendig vor, genau das zu tun. Der Drang überkam sie mit der Macht eines Anfalls. Der Würfel forderte sie auf, die Hand auszustrecken und ihn zu berühren.
Er verlangte nach menschlichem Kontakt.
Bella trat vor Anstrengung keuchend von der roten Linie zurück, bevor sie Schaden anrichten konnte. Ihr Herz raste. Das Verlangen war beinahe sexuell gewesen, wie die letzten Momente vor dem Höhepunkt.
»Bella?«, fragte Hannah. »Ist mit dir alles in Ordnung?«
Bella schnappte nach Luft und trat einen weiteren vorsichtigen Schritt vom Würfel zurück. Sie konnte den Drang immer noch spüren. Er war schwächer geworden, aber weiterhin vorhanden. Er übte immer noch einen gewissen Zwang auf sie aus. Erneut kam die Da-Vinci-Zeichnung in Sicht. Das Gesicht des Mannes war stark vereinfacht, aber der neutrale Ausdruck schien ein gewaltiges, einschneidendes Wissen zurückzuhalten – eine Last, die kaum erträglich schien.
»Was willst du von mir?«, flüsterte Bella.
Es war zweifellos nur Einbildung, aber in diesem Moment spürte sie eine stumme Antwort, die ihr Hirn wie warmes Wasser überflutete. Es war kein Wort, nicht einmal die Erinnerung an ein Wort, sondern nur eine einzige, überwältigende Wahrheit.
Dich.
Dreißig
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Als Parry drei Tage später im Habitat aufkreuzte, hatte sie schon fast den Grund für seinen Besuch vergessen. Ihr Geist hing einen Moment lang in der Schwebe, bevor sie sich an den Bagley-Fall erinnerte.
»Vielleicht hast du Recht«, sagte sie trübselig. »Vielleicht wäre es besser, wenn wir die Hunde schlafen lassen.«
Parry wirkte enttäuscht. »Das klingt nicht nach der Bella, mit der ich vor drei Tagen gesprochen habe.«
So war es. Es hatte etwas damit zu tun, wie gründlich der Würfel ihre geordnete Sicht der Dinge durcheinandergebracht hatte. »Es tut mir leid«, sagte sie und bot Parry einen Stuhl im grün schillernden Widerschein ihrer Aquarien an. »Von mir sollte man eigentlich erwarten, dass ich nicht so rede.«
Parry nahm die rote Mütze ab und kratzte sich im drahtigen Gewirr aus dünnem grauem Haar. Er sah sie mit einem leicht zusammengekniffenen Auge an. »Ist alles in Ordnung mit dir, Bella?«
»Mir geht es gut«, versicherte sie, doch es war eine Spur überbetont. »Ich habe nur ein paar seltsame Tage hinter mir. Ein paar seltsame Wochen, wenn ich genauer darüber nachdenke. Erst kehrt Mike zurück … dann die Ereignisse auf der Party …«
»Ich bin froh, dass du mit Svieta gesprochen hast. Hast du Mike dazu angestiftet?«
»Auf gar keinen Fall!«, sagte Bella. Sie war entsetzt, dass Parry auch nur diese Möglichkeit in Betracht zog. »Als ich ins Arboretum ging, war
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