Himmelstiefe
mich.
„Sie wurden abermals gelöscht. Allesamt.“
„Was?“ Ich musste stehen bleiben. „Sie haben sie gefunden? So viele Jahre nicht und dann so schnell?“
Leo ging einfach weiter. Ich setzte mich in Bewegung, um ihn wieder einzuholen.
„Ich habe sie hingeführt.“
Leos Geständnis hieb mich um. Ich blieb erneut stehen.
„Du? Du hast sie verraten?“
Diesmal blieb Leo auch stehen.
„Du hast mich zurückgewiesen. Aber ich habe darauf vertraut, dass du diejenige bist, die das Richtige tut. Das hat mich geleitet.“
Jetzt war ich noch mehr baff und wusste nichts zu sagen. In einer unübersichtlichen Situation versagt Strategie und Berechnung. Und auch wenn er fast anbiedernd klang, was er getan hatte, zählte. Leo hatte nach seinem Herzen gehandelt. Und darin war ich.
„Das … tut … mir leid.“
Ich wich Leos Blick aus und wusste nicht, wo ich hinschauen sollte.
„Was tut dir daran leid? Dein Herz ist vergeben, auch wenn …“
Er seufzte und zwang sich, den Satz nicht zu beenden.
„Dein Herz ist vergeben. Punkt.“
Leo lief wieder los. Ich folgte ihm und verstand, dass er mit seinem Hass auf Tim wohl auch noch eine Weile zu kämpfen haben würde. Auf einmal fühlte ich eine ganz neue Art von Zuneigung zu Leo. Leo war in Ordnung. Ich hatte mich nicht in ihm getäuscht und war irgendwie erleichtert, dass meine Leidenschaft für Leo nicht durch und durch dunklen Mächten gegolten hatte, sondern jemandem, der einfach genau so unfertig und verwirrt war wie ich. Ich wollte irgendwas Tröstliches sagen:
„Und wenn schon, er ist mit Minchin zusammen, für immer.“
„Für immer? Quatsch. Das wird schon noch.“
Es klang kein bisschen verächtlich oder ironisch. Leo klang ernsthaft überzeugt und wollte mir Mut machen. Und das schaffte er. Wie gern wollte ich an seine Worte glauben.
„Siehst du, jetzt lächelst du sogar mal wieder.“ Er buffte mir verschwörerisch in die Seite, als wären wir schon lange alte Freunde.
Wir kamen an dem Abzweig zu seinem Haus an. Die kleinen roten Lampionblumen schimmerten durch die Büsche. Ich war Leo so dankbar, stolz auf ihn, auf mich, auf uns, weil wir es packen würden und umarmte ihn einfach. Ich atmete wieder seinen Duft. Ich brauchte mich nicht mehr dagegen sträuben, weil ich jetzt wusste, auf welche Art ich ihn mochte.
„Schlaf gut“, sagte ich. Er drückte mich einmal kurz und fest.
„Du auch.“
***
Ein herrlicher Morgen begrüßte mich, als ich die Augen aufschlug. So gut geschlafen hatte ich schon lange nicht mehr. Ich fühlte mich ausgeruht, irgendwie wie neu, sprang aus dem Bett, zog die Vorhänge zurück und betrachtete die wunderschöne Märchenbuchlandschaft, die sich unter meinem Fenster ausbreitete. Leos Haus war darin nun überhaupt kein Störfaktor mehr. Ein Glück, dass er auf mich zugegangen war. Alles in meinem Leben war mächtig durcheinandergewirbelt worden, aber zum ersten Mal empfand ich eine tiefe Zuversicht, dass die Dinge in eine neue Ordnung kamen, auch wenn ich über vieles noch eine ganze Weile traurig sein würde.
Ich dachte mit einem leichten Unwohlsein an mein heutiges Vorhaben und wählte aus meinem gut gefüllten Kleiderschrank ein schlichtes, weißes T-Shirt und eine weiße Kniehose aus Baumwolle, leichte Sachen, die mich nicht behindern würden.
Unten in der Küche wartete ein Bananen-Kakao-Shake auf mich, den Neve mir hingestellte hatte. Sie war schon in aller Frühe nach Berlin aufgebrochen, zu ihrem Pianisten, der Tom hieß und in den sie sich verliebt hatte. Er lebte in einem herunter gekommenen, alten Haus, mitten im schicken Prenzlauer Berg, dass die sanierungswütigen Immobilienhaie der Nachwendezeit vergessen zu haben schienen. Immer zu Mitternacht, nach seiner Arbeit am Tresen einer Eckkneipe, suchte er seinen Flügel auf, den er in einem Raum schalldicht eingemauert hatte, damit ihn niemand hörte, und komponierte an einem Stück. Eine wunderschöne Melodie, erzählte Neve, aber ihm schien das Zutrauen zu fehlen, es jemals fertig zu bekommen oder irgendwann an die Öffentlichkeit zu gehen mit seinem Talent. Das Ganze klang nach einer komplizierten Geschichte und ich war mir nicht sicher, ob Neve es überhaupt jemals wagen würde, sich ihm zu zeigen. Denn bisher geisterte sie nur unsichtbar um ihn herum und belauschte ihn beim Komponieren. Ich hatte sie gebeten, mir ein dickes, großes Notizbuch mitzubringen. Ich wollte ein Tagebuch beginnen und alles was passiert war aufschreiben, so lange,
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