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Himmlische Träume: Die Fortsetzung des Weltbestsellers "Chocolat" (German Edition)

Himmlische Träume: Die Fortsetzung des Weltbestsellers "Chocolat" (German Edition)

Titel: Himmlische Träume: Die Fortsetzung des Weltbestsellers "Chocolat" (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joanne Harris
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begeistert, und es dauerte kein Jahr, bis davon gesprochen wurde, dass Karim möglicherweise seine älteste Tochter heiraten könnte.
    Anfangs behagte diese Entwicklung Inès überhaupt nicht. Aber Karim hatte sich verändert: Er trank nicht mehr, er war immer zuvorkommend, und er schien es mit dieser Veränderung ernst zu meinen. Außerdem wollte sie ihm gern glauben, sie wollte, dass er heiratete. Sonia war eine gute Muslima aus einer anständigen Familie, und nach den Fotos, die Inès zu sehen bekam, auch hübsch. Sie schob all ihre Zweifel beiseite. Die Zeremonie wurde vorbereitet.
    Ein Problem blieb ungelöst – Inès’ Geheimnis. Der Skandal um Karims Herkunft. Er hatte sich Saïd als Sohn von Amal Bencharki vorgestellt und angedeutet, Inès sei seine verwitwete Schwester.
    »Hätte Saïd mein Gesicht gesehen«, sagte Inès, »dann hätte er die Wahrheit gewusst. Und deshalb ließ ich zu, dass er die Lüge glaubte. Ich wurde Karims Schwester.«
    Die Hochzeit wurde angemessen gefeiert. Inès kam mit Du’a zu den Festlichkeiten. Sie hatte eigentlich nicht vor zu bleiben, aber etwas beunruhigte sie. Vielleicht war es die entspannte Atmosphäre in Les Marauds, die unverschleierten Mädchen, überhaupt der westliche Lebensstil. Manche Frauen trugen nicht einmal einen hijab. Inès war nicht damit einverstanden, wie der alte Mahjoubi die Gemeinde leitete. Der Mann war kein Gelehrter, und seine Interpretation des Korans war absolut unkonventionell. Er gestattete seinen Schäfchen zu viel Freiheit, er war zu nachsichtig, wenn es um sina ging. Seine Rivalität mit Francis Reynaud erschien ihr unangebracht, er sprach sich offen gegen den niqab aus, las alle möglichen unpassenden französischen Bücher und trank angeblich Alkohol. Sie beschloss zu bleiben. Wenigstens eine Weile.
    Karim war erstaunt und keineswegs erfreut. Aber er hätte nichts dagegen tun können, ohne sein Geheimnis preiszugeben. Im Lauf der Monate versuchte Inès, die Unzulänglichkeiten des alten Mahjoubi zu bekämpfen. Sie richtete eine Schule für muslimische Mädchen ein und arbeitete darauf hin, dass die Frauen den niqab trugen und sich auch sonst traditionell kleideten. Als Verwandte von Karim, der auf beiden Seiten des Flusses die Herzen für sich gewonnen hatte, spielte sie für die Frauen aus Les Marauds schon bald eine zentrale Rolle. Sie fanden Inès sehr ungewöhnlich, denn sie war fromm und trotzdem irgendwie emanzipiert, sie lebte allein, ging aber jeden Tag in die Moschee. Die Frauen ahmten sie nach und wetteiferten dabei miteinander. Keusche Kleidung galt jetzt als Ausdruck von Stolz, nicht als Einschränkung. Nach und nach wurde Inès Bencharki zum Vorbild der jungen Frauen aus Les Marauds.
    Gleichzeitig versuchte Saïd Mahjoubi, bei den Männern im Dorf etwas Ähnliches zu erreichen. Das Gym war schon immer ein Treffpunkt gewesen, und seit Karim es leitete, strömten die Männer, die zuvor gelangweilt und unzufrieden gewesen waren, nur so dahin. Karim besitzt eine enorme Strahlkraft, das habe ich ja selbst erlebt. Die Frauen fanden ihn attraktiv. Im Umgang mit den Männern war er aufgeschlossen. Älteren Menschen gegenüber benahm er sich ehrerbietig, aber er war auf eine unauffällige Art zugleich unkonventionell genug, um die junge Generation ebenfalls anzuziehen. Während Saïd nur Respekt und Tradition predigte und die Rückkehr zum Islam forderte, setzte Karim im Fitness-Studio den Islam dafür ein, seine eigenen Überzeugungen zu verbreiten. Überzeugungen, die er in den Straßen von Tanger erworben hatte, wo man Frauen ohne hijab als Freiwild betrachtete. Auf manche Männer übten solche Theorien eine subversive Anziehungskraft aus. Junge Typen, die früher schüchtern gewesen waren, gewöhnten sich schnell Machomanieren an. Brüder beaufsichtigten ihre Schwestern, wenn diese keinen hijab trugen, und als sich der traditionelle Kleidungsstil immer mehr durchsetzte, verschärften sich auch die Gegensätze in der Gemeinde. Saïd kritisierte die Führungsqualitäten seines Vaters jeden Tag lauter, und der alte Mann fachte das Feuer der Unruhe noch an, indem er gegen den niqab wetterte und sich für Integration einsetzte.
    Innerhalb eines halben Jahres veränderte sich die Atmosphäre in Les Marauds grundlegend, und niemand begriff so recht, wie und warum. Lag es an Karim? Oder an Inès? Niemand wusste es. In der friedlichen kleinen Gemeinde braute sich unter der Oberfläche etwas zusammen: etwas, aus dem schon bald ein Krieg

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