Himmlische Träume: Die Fortsetzung des Weltbestsellers "Chocolat" (German Edition)
Augen waren dunkel wie wilder Honig. »Versteht ihr, wir sind gar nicht so verschieden. Manche von uns wählen sich ihre Familie aus. Manche von uns werden ausgewählt. Und manchmal müssen wir zwischen zwei Hälften eines gebrochenen Herzens wählen. Das war die Wahl, vor der ich stand, Vianne. Es war nicht leicht, und es ist immer noch nicht leicht. Hört mir noch ein bisschen zu, und fragt euch selbst, ob ihr anders gehandelt hättet.«
9
Samstag, 28. August, 11:00 Uhr
»Karim war ein sehr hübscher Junge«, sagte sie. »Und bald wurde aus ihm ein gutaussehender Mann. Er gefiel den Frauen. Und den Männern. Er wusste, wie man die Menschen für sich gewinnt. Er wollte in Paris studieren. Ich gab ihm das Geld für die Reise. Aber nach einem Jahr schrieb er mir, er habe das Studium abgebrochen und wolle eine Französin heiraten. Sie war älter als er, arbeitete in einer Botschaft und hatte Geld. Sie war begeistert von Karim und gab ihm alles, was er sich wünschte. Ich hatte von Anfang an den Verdacht, dass er sie nur deswegen heiratete, muss ich gestehen. Ihrer Familie ging es ähnlich wie mir. Eines Tages rief mich die Mutter der Frau an. Sie hatte Nachforschungen angestellt und herausgefunden, dass ihre Tochter nicht die einzige Frau war, mit der sich Karim traf. Es gab noch andere Frauen, mehrere, und was noch schlimmer war: Es kursierten gewisse Gerüchte.«
Kurz lachte Inès auf. »Die Geschichte kam mir bekannt vor: Bei einer Party war ein Mädchen vergewaltigt worden, aber sie war betrunken gewesen, und ihre Aussage war deshalb nicht klar. Dann wurde in einem Park eine Studentin vergewaltigt, nicht weit von einem Nachtclub. Beide Frauen waren Kommilitoninnen von Karim, und in beiden Fällen fiel sein Name. Zwar wurde keine Anzeige erstattet, aber ich wusste Bescheid. Tief in meinem Herzen wusste ich alles.«
Sie fuhr also nach Paris und konfrontierte Karim mit ihrem Verdacht. Er leugnete alles, aber irgendetwas in seinem Blick sagte ihr, dass er der Täter war. Als sie in seinen Dingen herumsuchte, fand sie wieder seine Trophäen: eine Kette, einen Ohrring, ein Kopftuch, das noch nach Parfum duftete. Sie seien alle Huren, erklärte er trotzig. In der Hauptstadt gebe es viele Huren, die kein Schamgefühl, keinen Anstand besäßen. Warum sollte er das nicht ausnützen?
»Aber ich habe ihn trotzdem geliebt«, sagte Inès. »Er war mein Gold, mein Weihrauch. Ich wusste, dass ich an allem schuld war. Ich hatte ihn zu sehr verwöhnt. Und ich glaubte immer noch, ihn ändern zu können. Er war inzwischen dreiundzwanzig. Du’a war acht und ging in die Schule. Ich dachte, wenn ich Karim dazu bringen könnte, regelmäßig in die Moschee zu gehen, den Koran zu studieren, die Frauen und auch sich selbst zu respektieren, dann würde er dieses Verhalten aufgeben. Ich zwang ihn, mit mir nach Tanger zurückzukehren. Ich zwang ihn, die Verlobung zu lösen. Ich glaubte schon, dass er sich geändert hatte – aber ihr kennt alle meinen Sohn. Er zeigt der Welt ein goldenes Gesicht. Er ist redegewandt und intelligent, außerdem immer höflich und respektvoll. Die Menschen lieben ihn. Die Zeit verging. Ich fand einen Job für Karim, und zwar in einem Betrieb, der Textilien importierte. Nun war er oft geschäftlich unterwegs, und immer brachte er mir von seinen Reisen etwas mit. Manchmal war mir beklommen ums Herz – zum Beispiel, als ein Mädchen aus unserem Wohnblock bei den Mülltonnen vergewaltigt wurde. Und als eine junge Frau bei uns klingelte und nach Karim fragte. Aber mein Sohn hatte immer eine Erklärung, eine Ausrede, er hatte immer ein Alibi. Ich fragte mich schon, ob meine Vermutungen nichts als waswas waren, grundlose Befürchtungen. Und dann kam Saïd Mahjoubi – erst als Kunde, dann als Freund. Die beiden reisten gemeinsam nach Mekka, und sie verstanden sich sehr gut. Zuerst war ich froh. Saïd war ein guter Mann, ehrlich und fromm. Ich hoffte, dass er einen guten Einfluss auf Karim ausüben würde.«
Aber es lief genau umgekehrt: Karim beeinflusste Saïd. Der jüngere Mann ließ seinen Charme spielen, und Saïd war durchaus dafür empfänglich. Er war nicht gut auf seinen Vater zu sprechen, die jüngsten Ereignisse in Frankreich hatten ihn zynisch gemacht, deshalb sehnte er sich nach einem Land und einer Zeit, die doch niemals die seinen gewesen waren. Karim präsentierte ihm eine positive Version des Alltagslebens in Tanger, redete von Familie und Respekt und von seiner Rückkehr zum Islam. Saïd war
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