Himmlische Träume: Die Fortsetzung des Weltbestsellers "Chocolat" (German Edition)
Sonia begriff nicht so recht. »Wenn es stimmt, was Inès sagt …«
»Er braucht ihn lebendig«, erklärte Inès. »Wenn er alles, was mir widerfährt, Reynaud anhängen will, wie sollte er der Polizei dann erklären, dass der Mörder schon einige Tage vor dem Opfer zu Tode gekommen ist?«
»Er hat gewartet, bis du zurückkommst«, sagte Sonia.
Inès nickte. »Ja, vermutlich.«
»Aber jetzt«, begann Sonia erschrocken, »jetzt weiß er, dass du hier bist.«
Wieder schwiegen wir alle – bis uns klarwurde, was das bedeutete. Inès erhob sich als Erste und band schnell wieder den Schleier um. Sonia folgte ihrem Beispiel, und gleich darauf machten wir uns alle auf den Weg, auch Omi, die sich flugs noch eine Makrone in den Mund steckte.
Es war Reynauds vierter Tag im Keller unter dem Gym, wenn unsere Rechnung stimmte. Ich kenne diese Keller, sie sind dunkel und feucht, und wenn es regnet, sammelt sich dort das Wasser. Und der arme Mann ist schon die ganze Zeit dort eingesperrt! Loyalität ist tief verwurzelt in Les Marauds. Karims Freunde würden ihn nie verraten. Aber das Gym gehörte Saïd. Wusste er Bescheid? Wusste sein Vater Bescheid?
Ich habe von Ihnen geträumt, hatte der alte Mahjoubi zu mir gesagt, als ich am Mittwoch an seinem Krankenbett stand. Als ich das Istikhara-Gebet verrichten wollte, habe ich erst von Ihnen geträumt und dann von ihr. Passen Sie gut auf sich auf. Halten Sie sich vom Wasser fern.
Ich hatte gedacht, er meint mich. Vielleicht war ihm nicht ganz klargewesen, wer ich war, weil er hohes Fieber hatte. War seine Warnung eigentlich an Reynaud gerichtet gewesen? Wie die Frau in Schwarz und ich, so sind auch der alte Mahjoubi und Francis Reynaud Spiegelbilder voneinander. Hatte der alte Mann die Wahrheit vorausgesehen? War sein Traum vielleicht mehr gewesen als ein Traum?
11
Samstag, 28. August, 11:25 Uhr
Wir eilten hinaus auf den Platz vor der Kirche. Die Sonne brannte schon glühend heiß. Keine Spur von Regen mehr, und das Kopfsteinpflaster war schon wieder ganz staubig. Ein paar Tauben, die vor der Tür herumgepickt hatten, flogen mit raschem Flügelschlag davon. Der Platz war inzwischen fast menschenleer, Poitou war gerade dabei, seine Bäckerei zu schließen, die Pétanque-Spieler hatten ihre Sachen zusammengepackt, strebten nach Hause oder zu einem eisgekühlten floc unter den Persimonenbäumen. Nur eine traurige Gestalt war noch unter dem Bogen der Kirchentür zu sehen: Paul-Marie Muscat in seinem Rollstuhl, halb im Schatten, halb in der Sonne, wie der Ritter der Kelche auf den Tarotkarten.
»Herzlichen Glückwunsch, du hast es wieder geschafft!«, rief er mir über den Platz hinweg zu. »Sag mal, hast du eigentlich eine Spezialausbildung, oder bist du ein Naturtalent?«
Ich rief zurück: »Ich habe keine Zeit, es ist ein Notfall!«
»Das wundert mich gar nicht«, lachte er höhnisch. »Bei dir ist immer alles wahnsinnig dringend. Acht Jahre warst du weg, und ich will ja nicht behaupten, dass in der Zeit alles perfekt gelaufen ist, aber kaum bist du ein paar Wochen wieder hier, ist das ganze Dorf ein Scherbenhaufen.«
Ich muss ein verdutztes Gesicht gemacht haben, denn er lachte wieder, als ich nun doch auf ihn zuging. »Hast du’s noch nicht gehört?«, fragte er. »Sie verlässt mich. Diesmal für immer. Sie haut ab, mit den Flussratten. Genau wie beim Rattenfänger.« Er rülpste laut, und da merkte ich erst, dass er sturzbetrunken war. »Sag mal, Vianne, wirst du dafür bezahlt? Lohnt es sich wenigstens? Oder arbeitest du für Gotteslohn?«
»Ich habe keine Ahnung, wovon du redest«, sagte ich. »Aber wenn du eine halbe Stunde wartest, komme ich zurück, und du kannst mir alles erklären. Trink einen Kaffee. Ich bin gleich wieder da.«
Wieder dieses Lachen, das wie eine blecherne Regenrinne klang. »Du machst mich fertig, Vianne. Echt. Du hast ihr doch geraten, mir die Wahrheit zu sagen, oder? Mir zu sagen, dass ihr Balg nicht von dem verdammten Rotschopf stammt, sondern von mir? Jetzt hat sie reinen Tisch gemacht, und nachdem sie mir acht verdammte Jahre meines Lebens gestohlen hat, verkündet die blöde Schlampe, dass sie mich verlässt, als hätte sie jetzt die Erlaubnis dazu.«
Ich war fassungslos. »Sie hat es dir gesagt?«
»Ja, sie konnte gar nicht mehr aufhören zu reden. Als käme dadurch, dass sie mir die Wahrheit gesteht, alles in Ordnung. Das habe ich nur dir zu verdanken, stimmt’s, Vianne? Und was gibt’s jetzt schon wieder so Dringendes in Les
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