Himmlische Träume: Die Fortsetzung des Weltbestsellers "Chocolat" (German Edition)
wird, packt mich die Neugier. Es klingt so, als ob ein Teil der Leute französisch redet, ein anderer Teil arabisch. Aber warum sollten sich so viele Leute draußen auf dem Boulevard zusammentun?
Wieder einmal begebe ich mich zu dem Luftschacht, weil ich da besser hören kann. Sehen kann ich allerdings auch hier nichts, nur die gegenüberliegende Mauer und ein paar Büschel Löwenzahn, die zwischen den Steinen wachsen. Ich recke den Hals. Vielleicht kann ich ja doch etwas erspähen. Vergeblich. Eine Demonstration? Manche Stimmen klingen wütend, andere einfach nur lebhaft und aufgeregt. Doch es liegt ein Widerhall in der Luft, irgendetwas vibriert, wie eine Schnur, die zum Zerreißen gespannt ist. Bald wird etwas passieren.
Ich mache noch einen Versuch, durch das Gitter zu sehen. Von meiner Kistenpyramide aus nehme ich verschwommen eine Bewegung wahr. Schatten, die über den Boden huschen.
»Maya?« Meine Stimme ist fast unhörbar. Sie klingt wie eine kaputte Uhr, die hinten in meiner Kehle tickt. Nach Hilfe zu rufen ist Unsinn. Selbst wenn ich richtig laut schreien könnte, würde ich den Lärm nicht übertönen. Aber dann –
Wieder die Bewegung, diesmal näher, und da sind zwei Füße. Ich weiß, dass sie nicht Maya gehören. Es ist ein Paar hellblaue Turnschuhe unter dem Saum eines langen schwarzen Gewandes.
»Hallo!«, rufe ich mit meiner kläglichen Stimme. »Hier unten!«
Eine kurze Pause. Dann erscheint am Gitter ein Gesicht. Es dauert einen Moment, bis ich Inès Bencharkis Tochter erkenne. Wegen der schwarzen Kopftücher ist es manchmal schwer, die Mädchen zu unterscheiden. Und außerdem hat die Kleine noch nie mit mir gesprochen. Ich weiß nicht einmal, wie sie heißt.
Die dunklen Augen werden groß, und dann, völlig unerwartet bei diesem ernsten, schmalen Gesicht, erscheint ein Lächeln.
»Dann sind Sie also Mayas Dschinn!«
Das ist ja phantastisch. Ich bin so froh, kleines Mädchen, dass du meine Situation lustig findest. Ich sage dir, ich habe ihr schon alle drei Wünsche erfüllt!
Wieder Unruhe, Bewegung. Noch ein Paar Turnschuhe – oder etwas Ähnliches. Die Schuhe sind so dreckig und verschmiert wie das Gesicht, das jetzt am Gitter erscheint. Jean-Philippe Bonnet, glaube ich, auch bekannt als Pilou.
»Was ist denn da los?«
»Ich glaube, es gibt einen Aufstand. Total super.«
Total super. So kann man es auch ausdrücken. Fehlt nur noch der verdammte Hund.
»Wir sind wegen Vlad hier, er kann nämlich Menschenmengen nicht ausstehen.«
Mein Wunsch ist also prompt in Erfüllung gegangen. Eine schnuppernde Schnauze erscheint am Gitter, vorne dran eine feuchte schwarze Trüffel.
»Es ist alles in Ordnung«, sagte Pilou. »Sie kommen gleich, um Sie rauszuholen.«
»Wie bitte? Die ganzen Leute?«
»Ja, so ungefähr. Ein paar sind auch einfach nur mitgelaufen.«
Das wird ja immer besser. Lauter Augenzeugen. Wenn ich hier rauskomme, völlig durchnässt, mit einem Dreitagebart und einem Gesicht, fahl wie der Tod, dann will ich natürlich gleich halb Lansquenet begegnen. Ganz zu schweigen von der Polizei und der Feuerwehr und allen, die sonst noch an dem Spektakel teilhaben wollen. Und Père Henri – ist der womöglich auch dabei? Ach, du lieber Gott. Hol mich zu Dir. Jetzt gleich.
»Ist alles in Ordnung?«
»Mir geht’s super.«
»Halten Sie durch. Es dauert nicht mehr lang.«
Plötzlich ist ganz in der Nähe eine Männerstimme zu hören. Der Mann redet arabisch. Es ist Karim Bencharki. Dessen Stimme erkenne ich. Dann ein Gerangel, der Hund bellt laut, das Gesicht des Jungen verschwindet, das lange schwarze Gewand wird von einer Staubwolke verdeckt. Die hellblauen Turnschuhe rutschen in hohem Bogen rückwärts und verschwinden aus meinem Blickfeld.
»He!«, ruft der Junge. »Was soll das? Was machen Sie da? He!«
Und dann fängt das Mädchen an zu schreien. Der Hund bellt immer noch wie verrückt, und einen Moment lang scheint es, als würde ein Kampf stattfinden. Dann höre ich einen dumpfen Aufprall, der Junge schlägt gegen die Wand. Sein Kopf landet auf dem Boden, nur eine Handbreit von meinem Gitter entfernt. Ich sehe die blonden Haare und eine dünne kriechende Blutspur.
Dann ist alles still. Ohrenbetäubend still. Obwohl in der Ferne die Menge tobt.
Und in dem Moment öffnet sich die Kellertür.
Samstag, 28. August, 11:40 Uhr
Nach der staubigen Hitze draußen war der Chlorgeruch wie ein Schlag ins Gesicht. Das Licht war so schummerig, dass ich ein paar Sekunden brauchte,
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