Himmlische Träume: Die Fortsetzung des Weltbestsellers "Chocolat" (German Edition)
Karim entfernt, zu weit weg, um einzugreifen, und sein Gegenspieler konnte ja jederzeit das Feuerzeug anklicken. Und doch erwog Roux, sich auf ihn zu stürzen. Ich sah das an seiner Körperhaltung: die Anspannung zwischen den Schultern, eine leichte Gewichtsverlagerung seiner Füße.
Dann hörte ich plötzlich aus dem kleinen Gässchen einen Schreckensruf.
Es war Omi Al-Djerba. »Da liegt jemand! Ein Kind!«, rief sie. »Hee, es ist Du’as Freund!« Von da, wo sie stand, konnte sie gar nicht sehen, welche Tragödie sich hier am Tannes anbahnte. Doch Joséphine schrie Karim jetzt aus voller Kehle an: »Was hast du mit meinem Sohn gemacht?«
Er zuckte die Achseln. »Er hat sich mir in den Weg gestellt.«
»Ich bringe dich um! Wenn du ihm etwas angetan hast, bringe ich dich um!«
Die Leute um uns herum waren verstummt. Außer Inès wagte niemand mehr zu sprechen. In der glühend heißen Sonne war der Benzingestank unerträglich. Die Luft flirrte vor Spannung. Vom Landesteg aus sah ich Paul-Marie: Sein Gesicht war nicht mehr gerötet, sondern aschfahl. Konnte es sein, dass Paul-Marie tatsächlich Angst um seinen Sohn hatte?
Joséphine war schon losgelaufen, um nach Pilou zu sehen. Ich konnte nicht sehen, was dort los war. Wie Roux war ich hier festgenagelt. Nur Inès und Karim bewegten sich noch und beäugten einander wie misstrauische Katzen.
»Lass Du’a los«, sagte Inès leise, aber bestimmt. »Ich mache alles, was du von mir verlangst. Ich gehe weg von hier. Ich gehe zurück nach Tanger und komme nie wieder nach Lansquenet.«
»Als würde das jetzt noch etwas nützen!«, schrie Karim. Er klang wie ein wütender Teenager. »Du hast doch immer nur eins getan: mein Leben verpfuscht. Du hast mich daran erinnert, dass ich in Schande geboren wurde. Aber das war nicht meine Schuld!«
»Karim!«, rief sie beschwörend. »Karim, du weißt genau, dass ich dir nie die Schuld gegeben habe.«
Wieder lachte er. »Das war auch gar nicht nötig. Ich habe es doch jeden Tag in deinem Gesicht gesehen.« Erneut wandte er sich an die Menschenmenge. »Seht ihr dieses Gesicht? Das bedeutet, sie ist eine Hure. Untendrunter sind sie alle Huren, alle miteinander. Sogar unter dem niqab beobachten sie dich. Sie führen dich in Versuchung. Sie sind permanent läufig. Sie sind die Armee des shaitan, weich wie Seide, und dann legen sie dir die Hände um den Hals.«
Schon wieder dieses Lachen. Sein Feuerzeug, knallrot wie ein Erdbeerlutscher, funkelte fröhlich in der Sonne. Ein Klicken –
Du’a schrie auf. Aber die Flamme war nicht richtig angegangen.
Karim warf uns sein strahlendes Regenbogenlächeln zu. »Huch. Versuchen wir’s noch mal.«
Ich machte einen halben Schritt vorwärts. Vom Hinterausgang des Gyms verfolgte Saïd Mahjoubi alles.
»Warum Du’a?«, fragte ich Karim. »Warum wollen Sie Du’a das antun? Sie ist unschuldig.«
»Woher willst du das wissen?«, schrie Karim. »Ich brauche doch nur einen Blick auf dich zu werfen, dann weiß ich, was für eine Frau du bist. Da, wo ich herkomme, wissen die Männer, wie man Frauen wie dich behandeln muss, samt ihren Töchtern. Aber hier in Frankreich reden die Leute über verschiedene Lebensentwürfe und den freien Willen.«
Plötzlich stand Alyssa neben mir. »Lass die Kleine gehen«, sagte sie. »Niemand will, dass dir etwas geschieht. Und Du’a hat doch nichts Böses getan.«
Seine honiggoldenen Augen ruhten auf ihr. »Meine süße kleine Schwester«, sagte er und lächelte. »Weißt du noch, was ich dir mal gesagt habe? Das Paradies öffnet seine Pforten im Monat Ramadan. Wenn du doch nur den Mut gehabt hättest, das zu tun, was ich tun werde, dann wäre das alles vielleicht nie passiert. Wir hätten zusammen sein können. Aber du hast auf die Einflüsterungen des shaitan gehört.«
»Meinst du wirklich, Allah lässt sich täuschen, Karim?«
Die Stimme kam aus der Menge hinter uns und klang vage vertraut. Eine mächtige, fordernde Männerstimme, voller Zorn und Energie. Zuerst dachte ich, es sei Saïd, aber Saïd stand immer noch drüben an der Tür und sah aus wie jemand, den man aus einem Traum herausgezerrt hat. Sein Gesicht schimmerte ungläubig.
Ich drehte mich um und konnte kaum fassen, was ich sah: Hinter mir stand der alte Mahjoubi, aber er war nicht mehr der gebrechliche Kranke, den ich bei den Al-Djerbas angetroffen hatte. Er wirkte wie verwandelt. Wiederbelebt und wiedergeboren. Energisch ging er in Richtung Plankenweg, und die Menschen wichen zurück,
Weitere Kostenlose Bücher