Himmlische Wunder
ich brauche Zeit, um meine Gedanken zu ordnen und um sicher zu sein, dass der Plan nicht völlig bekloppt ist. Mir ist nämlich etwas eingefallen. Etwas, was früher passiert ist, damals, als wir noch anders waren. Vielleicht hat es mit Rosette zu tun. Mit der armen Rosette, die schrie wie eine Katze und nie etwas gegessen hat und die immer wieder aufhörte zu atmen, ohne jeden Grund, sekundenlang, manchmal sogar minutenlang …
Das Kind. Die Krippe. Die Tiere –
Die Engel und die Heiligen Drei Könige, die Weisen aus dem Morgenland –
Wer sind eigentlich diese Weisen? So wie sie aussehen, könnten sie genauso gut Zauberer oder Magier sein. Und wieso denke ich, dass ich schon mal einem begegnet bin?
6
D IENSTAG , 4 . D EZEMBER
In der Zwischenzeit musste ich mich immer wieder um Roux kümmern. Zu meinen Plänen gehört, dass er keinen direkten Kontakt mit Vianne hat, aber ich brauche ihn in der Nähe. Deshalb ging ich wie verabredet nach der Arbeit zur Rue de la Croix und wartete auf ihn.
Es war schon fast sechs, als er aus dem Haus kam. Thierrys Taxi war bereits vorgefahren – er wohnt in einem hübschen Hotel, solange die Wohnung renoviert wird –, aber Thierry selbst war noch nicht erschienen, und ich konnte aus sicherer Entfernung beobachten, wie Roux wartete, die Hände in den Taschen und den Kragen gegen den Regen hochgeklappt.
Thierry behauptet gern von sich, er sei ein Mann ohne Allüren, der keine Angst davor hat, sich die Hände schmutzig zu machen, und der niemals einen anderen Mann demütigen würde, nur weil er weniger Geld hat als er oder gesellschaftlich weniger angesehen ist. Stimmt natürlich alles nicht. Thierry ist ein Angeber der übelsten Sorte – er weiß es nur nicht, das ist alles. Aber in seinem Verhalten schlägt es sich trotzdem nieder, zum Beispiel, wenn er Laurent immer mon pote nennt, und ich sah es auch jetzt an der betont gemächlichen Art, wie er die Wohnung abschloss und die Alarmanlage aktivierte und sich dann erst mit überraschter Miene Roux zuwandte, als wollte er sagen: Ach, Sie habe ich ja ganz vergessen –
»Wie viel haben wir vereinbart? Hundert?«, fragte er.
Hundert Euro pro Tag, dachte ich. Nicht gerade großzügig. AberRoux zuckte wie immer nur die Achseln – eine Geste, die Thierry auf die Palme bringt, er will dann unbedingt eine Reaktion erzwingen. Roux hingegen bleibt cool. Aber mir fiel auf, dass er die ganze Zeit den Blick gesenkt hielt, als hätte er Angst, er könnte etwas offenbaren.
»Wäre ein Scheck okay?«, fragte Thierry.
Kein übler Schachzug, dachte ich. Er weiß selbstverständlich ganz genau, dass Roux kein Konto besitzt, dass er keine Steuern bezahlt und vielleicht ganz anders heißt.
»Oder möchten Sie es lieber in bar?«
Wieder zuckte Roux die Achseln. »Egal«, brummte er. Offenbar ist er eher bereit, den Lohn für einen ganzen Tag in den Wind zu schreiben, als ein Zugeständnis zu machen.
Thierry reagierte mit einem breiten Grinsen. »Gut, dann gebe ich Ihnen einen Scheck. Ich habe heute nicht viel Bargeld bei mir. Sind Sie auch wirklich einverstanden?«
Roux’ Farben flammten auf, aber er schwieg verstockt.
»Auf wen soll ich ihn ausstellen?«
»Lassen Sie es offen.«
Immer noch grinsend unterschrieb Thierry den Scheck. Er ließ sich Zeit, dann reichte er ihn Roux mit einem jovialen Zwinkern. »Hier – wir sehen uns dann morgen. Um dieselbe Uhrzeit. Es sei denn, Sie haben schon genug.«
Roux schüttelte den Kopf.
»Also gut. Halb neun. Und kommen Sie bitte nicht zu spät.« Mit diesen Worten stieg er in sein Taxi und ließ Roux mit seinem nutzlosen Scheck stehen.
Roux war zu sehr in Gedanken versunken, um zu merken, dass ich mich ihm näherte.
»Roux«, sagte ich.
»Vianne?« Er drehte sich um, mit einem Lächeln auf dem Gesicht. »Ach, Sie sind’s.« Das Lächeln verblasste.
»Ich heiße Zozie.« Ich warf ihm einen tadelnden Blick zu. »Und Sie könnten ruhig versuchen, ein bisschen charmanter zu sein.«
»Wie bitte?«
»Na ja, Sie könnten wenigstens so tun, als würden Sie sich freuen, mich zu sehen.«
»Oh. Verzeihung.« Er schien betroffen zu sein.
»Wie ist der Job?«
»Nicht schlecht.«
Ich lächelte. »Kommen Sie – wir suchen uns einen trockenen Ort, um zu reden. Wo wohnen Sie?«
Er nannte eine Absteige in einer Seitenstraße der Rue de Clichy – so ähnlich hatte ich es mir vorgestellt.
»Dann gehen wir doch dorthin. Ich habe nicht viel Zeit.«
Ich kannte das Hotel – billig und
Weitere Kostenlose Bücher