Himmlische Wunder
ich holte sie aus der Kiste. Sie duften immernoch nach meiner Mutter. Ich tue das so selten, dass ich es kaum glauben kann.
Und trotzdem mische ich die Karten mit jahrelanger Routine. Lege sie aus im Muster des Lebensbaumes, das meine Mutter am liebsten mochte, sehe die Bilder vorbeihuschen.
Das Windspiel vor dem Laden rührt sich nicht, aber ich kann es trotzdem hören. Ich höre den Nachhall, wie bei einer Stimmgabel. Ich bekomme Kopfschmerzen davon, und die Härchen auf meinen Armen richten sich auf.
Drehe die Karten um, eine nach der anderen.
Die Bilder sind mir mehr als vertraut.
Der Tod. Die Liebenden. Der Erhängte. Die Veränderung.
Der Narr. Der Magus. Der Turm.
Ich mische die Karten und versuche es noch einmal.
Die Liebenden. Der Erhängte. Die Veränderung. Der Tod.
Wieder dieselben Karten, nur in anderer Reihenfolge. Als hätte sich das, was mich verfolgt, auf subtile Weise verändert.
Der Magus. Der Turm. Der Narr .
Der Narr hat rote Haare und spielt Flöte. Er erinnert mich irgendwie an den Rattenfänger, mit seinem Federhut und dem Flickenmantel – wie er hinaufschaut zum Himmel, ohne auf den gefährlichen Weg zu achten. Hat er selbst bewirkt, dass sich der Abgrund vor seinen Füßen auftut, eine Falle für jeden, der ihm folgt? Oder wird er unbekümmert über den Rand gehen?
Ich konnte danach kaum schlafen. Der Wind und meine Träume verbündeten sich und weckten mich immer wieder auf, und außerdem rumorte Rosette und war viel weniger ansprechbar als im letzten halben Jahr, und ich versuchte drei Stunden lang, sie zum Schlafen zu bringen. Nichts half, weder die Schokolade in ihrer Spezialtasse noch irgendeins ihrer Lieblingsspielzeuge, auch nicht das Nachtlicht mit dem Affen oder ihre Schmusedecke (eine hellbeige Scheußlichkeit, an der sie sehr hängt). Nicht einmal das Schlaflied meiner Mutter.
Ich hatte allerdings das Gefühl, dass sie eher aufgekratzt war alsverängstigt. Sie fing nur an zu jammern, wenn ich gehen wollte. Sonst war sie glücklich und zufrieden damit, dass wir beide wach waren.
Baby , sagte sie mit einem Zeichen.
»Es ist mitten in der Nacht, Rosette. Schlaf endlich.«
Baby sehen , wiederholte sie.
»Das geht jetzt nicht. Morgen vielleicht.«
Draußen rüttelte der Wind an den Fensterläden. Drinnen hüpften ein paar kleine Gegenstände, ein Dominostein, ein Bleistift, ein Stück Kreide und zwei Plastiktiere vom Kaminsims auf den Fußboden.
»Bitte, Rosette. Nicht jetzt. Geh schlafen, und morgen sehen wir weiter.«
Um halb drei war sie endlich eingeschlafen. Ich schloss die Tür zwischen uns und legte mich auf mein durchhängendes Bett. Es ist kein richtiges Doppelbett, aber zu breit für ein Einzelbett. Es war schon alt, als wir hier einzogen, und die kaputten Federn bereiten mir oft schlaflose Nächte, weil die Unebenheiten nicht berechenbar sind. Heute war es allerdings besonders schlimm. Kurz nach fünf gab ich auf und ging nach unten, um mir einen Kaffee zu kochen.
Draußen regnete es. Dicke, schwere Tropfen. Das Wasser rauschte die kleine Straße hinunter und gluckerte in den Gullys. Ich nahm mir die Wolldecke, die auf der Treppe lag, und ging damit nach vorn in den Laden. Dort setzte ich mich in einen von Zozies Polstersesseln (viel bequemer als die Sessel oben). Aus der Küche fiel warmes Licht durch die halb geöffnete Tür. Ich rollte mich zusammen und wartete auf den Morgen.
Ich muss eingeschlafen sein. Ein Geräusch weckte mich: Es war Anouk, die barfuß in ihrem rotblau karierten Schlafanzug angetapst kam, gefolgt von einem verschwommenen Schatten, bei dem es sich nur um Pantoufle handeln konnte. Mir ist im letzten Jahr aufgefallen, dass Pantoufle zwar tagsüber oft wochenlang verschwindet, manchmal sogar ein paar Monate, aber nachts kommt er immer wieder. Was mir unmittelbar einleuchtet, denn alle Kinderhaben Angst vor der Dunkelheit. Anouk schlüpfte zu mir unter die Decke und schmiegte sich an mich, ihre Haare kitzelten mich im Gesicht, und sie presste ihre kalten Füße in meine Kniekehlen, so wie sie es früher immer gemacht hat, als sie noch viel kleiner war, damals, als die Dinge noch einfach waren.
»Ich kann nicht schlafen. Es tropft durch die Decke.«
Das habe ich ganz vergessen. Im Dach ist eine undichte Stelle, die bisher niemand so richtig reparieren konnte. Das ist das Problem bei diesen alten Häusern. Egal, wie viel Arbeit man investiert, es gibt immer etwas Neues, worum man sich kümmern muss, einen vermoderten Fensterrahmen,
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