Himmlische Wunder
eine kaputte Dachrinne, Holzwurm in den Balken, eine zerbrochene Schieferplatte. Thierry ist zwar sehr großzügig, aber ich will ihn auch nicht andauernd um Hilfe bitten. Das ist Quatsch, ich weiß, aber ich bitte nun mal nicht gern.
»Ich habe über unser Fest nachgedacht«, sagte Anouk. »Muss Thierry unbedingt kommen? Er würde alles kaputt machen, weißt du.«
Ich seufzte. »Ach, bitte nicht jetzt.« Anouks ungebremste Intensität amüsiert mich meistens, aber nicht um sechs Uhr morgens.
»Komm schon, Maman«, sagte sie. »Wir könnten ihn doch einfach nicht einladen, oder?«
»Das wird schon«, sagte ich. »Du wirst sehen.« Ich wusste natürlich, dass das keine Antwort war, und Anouk ruckelte hin und her und zog sich schließlich die Decke über den Kopf. Sie roch nach Vanille und Lavendel und dem schwachen Schafgeruch ihrer verfilzten Haare, die in den letzten vier Jahren gröber geworden sind, wie wilde Wolle, die noch nicht bearbeitet wurde.
Rosettes Haare sind immer noch fein und weich wie bei einem Baby. Seidenpflanze und Ringelblumen. Vier Jahre wird sie alt, in knapp zwei Wochen, aber sie wirkt so viel jünger, Arme und Beine wie dünne Stängel, die Augen zu groß für das kleine Gesichtchen. Mein Katzenkind, habe ich sie immer genannt, damals, als das noch ein Scherz war.
Mein Katzenkind. Mein Wechselbalg.
Anouk drehte sich wieder um, drückte ihr Gesicht an meine Schulter und schob ihre Hände in meine Armbeuge.
»Ist dir kalt?«, fragte ich sie.
Sie schüttelte den Kopf.
»Wie wär’s mit einer Tasse Schokolade?«
Sie schüttelte wieder den Kopf, aber diesmal mit mehr Nachdruck. Ich staunte wieder einmal darüber, wie weh diese kleinen Dinge tun, … der vergessene Kuss, das aussortierte Spielzeug, die Gutenachtgeschichte, die das Kind nicht mehr hören will, der irritierte Blick, wo früher ein Lächeln die Antwort gewesen wäre …
Kinder sind Messer , hat meine Mutter einmal gesagt. Sie tun es nicht absichtlich, aber sie schneiden . Und trotzdem klammern wir uns an sie, stimmt’s? Wir halten sie fest, bis Blut fließt. Mein Sommerkind, das mir dieses Jahr immer fremder geworden ist, und da fiel mir auf, wie lange es schon her war, dass sie mir erlaubt hatte, sie so zu umarmen, und ich wünschte mir, wir könnten es noch ein bisschen länger auskosten, aber die Uhr an der Wand zeigte schon Viertel nach sechs.
»Geh in mein Bett, Nanou. Da ist es warm, und es tropft nicht durch die Decke.«
»Was ist mit Thierry?«, fragte sie.
»Darüber reden wir später, Nanou.«
»Rosette will ihn auch nicht dabeihaben.«
»Woher willst du das wissen?«
Anouk zuckte die Achseln. »Ich weiß es eben.«
Ich seufzte und küsste sie auf den Scheitel. Wieder dieser schafartige Vanilleduft, aber da war noch etwas Stärkeres, Erwachseneres, das ich als Weihrauch identifizierte. Zozie verbrennt immer Weihrauch in ihren Zimmern. Ich weiß, dass Anouk oft bei ihr ist, sich mit ihr unterhält und ihre Klamotten anprobiert. Es ist gut, dass sie jemanden wie Zozie hat, eine Erwachsene, die nicht ihre Mutter ist, der sie sich anvertrauen kann.
»Du solltest Thierry eine Chance geben. Ich weiß, er ist nicht perfekt, aber er mag dich sehr.«
»Du willst doch eigentlich auch nicht, dass er kommt«, sagte sie.»Du vermisst ihn überhaupt nicht, wenn er nicht hier ist. Du bist nicht in ihn verliebt –«
»Bitte, fang jetzt nicht damit an«, sagte ich genervt. »Es gibt viele verschiedene Arten von Liebe. Ich liebe dich, und ich liebe Rosette, und nur weil das, was ich für Thierry empfinde, anders aussieht, heißt das noch lange nicht, dass ich –«
Aber Anouk hörte mir nicht zu. Sie krabbelte unter der Decke hervor, befreite sich aus meinen Armen. Ich ahne ja, was los ist. Sie fand Thierry so weit in Ordnung, bis Roux wieder aufgetaucht ist, und wenn er wieder verschwindet …
»Ich weiß, was am besten ist. Ich tue es für dich, Nanou.«
Anouk zuckte wieder die Achseln und sah aus wie Roux.
»Glaub mir. Es wird alles gut.«
»Wenn du meinst«, sagte sie und ging nach oben.
10
F REITAG , 7 . D EZEMBER
Ach, du meine Güte. Es ist schon betrüblich, wenn die Kommunikation zwischen Mutter und Tochter zusammenbricht. Vor allem, wenn sie sich so nahestehen wie diese beiden. Heute war Vianne sehr müde. Ich sah es ihr gleich an. Ich glaube, sie hat in der vergangenen Nacht nicht viel geschlafen. Auf jeden Fall ist sie zu erschöpft, um die wachsende Frustration in den Augen ihrer Tochter
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