Himmlische Wunder
von meinem dreischichtigen Schokoladenkuchen zu versuchen. Sie bleibt, aber sie sagt selten etwas. Es macht ihr allerdings großen Spaß, zuzuschauen, wie Rosette unter der Theke sitzt und malt oder ihre Bilderbücher betrachtet.
Heute hat sie das Adventshaus studiert, das jetzt so weit geöffnet ist, dass man ins Innere sehen kann. Die aktuelle Szene spielt im Treppenhaus: Gäste kommen an die Haustür, und die Gastgeberin in ihrem Partykleid steht da, um sie zu begrüßen.
»Das ist eine ausgesprochen originelle Dekoration«, sagte Madame Luzeron und streckte ihr gepudertes Gesicht weiter vor, um besser sehen zu können. »Diese kleinen Schokoladenmäuse! Und die niedlichen Püppchen –«
»Hübsch, nicht wahr? Annie hat sie gebastelt.«
Madame nippte an ihrer Schokolade. »Vielleicht hat sie recht«,murmelte sie schließlich. »Es gibt nichts Traurigeres als ein leeres Haus.«
Die Püppchen sind aus hölzernen Wäscheklammern, sorgfältig angemalt und mit großer Detailgenauigkeit gekleidet. Viel Zeit und Mühe hat Anouk investiert, und in der Dame des Hauses erkenne ich mich selbst. Das heißt, ich erkenne Vianne Rocher. Das rote Kleid ist aus einem Seidenrest, die langen schwarzen Haare sind – auf Anouks Bitte hin – aus einer Strähne von mir, die sie aufgeklebt und mit einer Schleife zusammengebunden hat.
»Wo ist deine Puppe?«, fragte ich Anouk später.
»Ach, mit der bin ich noch nicht ganz fertig. Aber sie kommt noch«, antwortete sie mit so ernster Miene, dass ich mir ein Lächeln nicht verkneifen konnte. »Ich mache für jeden eine Puppe. Und an Heiligabend sind dann alle da, und die Türen im Haus stehen offen, und es gibt ein großes Fest, bei dem alle dabei sind.«
Aha , dachte ich. Der Plan konkretisiert sich .
Am 20 . Dezember hat Rosette Geburtstag. Wir haben noch nie eine Feier für sie gemacht. Ein blöder Termin, schon immer, zu nah am Julfest und nicht weit genug weg von Les Laveuses. Anouk redet jedes Jahr davon, dass wir feiern sollten, aber Rosette macht es nichts aus. Für sie ist jeder Tag magisch, und eine Handvoll Knöpfe oder ein Stück zerknittertes Silberpapier können genauso spannend sein wie die teuersten Spielsachen.
»Könnten wir nicht auch ein Fest machen, Maman?«
»Ach, Anouk. Du weißt doch, das geht nicht.«
»Warum nicht?«, fragte sie trotzig.
»Na ja – es ist so viel los um diese Jahreszeit. Und außerdem ziehen wir doch in die Rue de la Croix.«
»Ja, klar«, brummt Anouk. »Aber genau deswegen, meine ich. Wir können doch nicht einfach umziehen, ohne uns zu verabschieden. Ich finde, wir sollten an Heiligabend ein richtig großes Fest machen. Zu Rosettes Geburtstag. Für unsere Freunde. Du weißt doch auch, dass alles anders wird, wenn wir bei Thierry wohnen. Dann müssen wir alles so machen, wie er es will, und –«
»Das ist nicht fair, Anouk.«
»Aber es stimmt doch, oder?«
»Vielleicht«, sagte ich.
Ein Fest an Heiligabend. Als hätte ich nicht schon genug zu tun! In der Chocolaterie ist jetzt so viel Betrieb wie sonst das ganze Jahr nicht.
»Ich würde natürlich helfen«, sagte Anouk. »Ich kann die Einladungen schreiben und das Essen planen und die Dekorationen aufhängen, und ich kann für Rosette einen Kuchen backen. Du weißt, sie isst am liebsten Schokolade-Orangen-Kuchen. Wir könnten einen backen, der aussieht wie ein Affe. Oder wir machen ein Kostümfest, und alle Leute müssen sich als Tiere verkleiden. Wir können Grenadine anbieten und Cola und natürlich Schokolade.«
Ich musste lachen. »Du hast dir alles schon ganz genau ausgedacht, hm?«
»Na ja, ein bisschen was«, antwortete sie und zog eine Grimasse.
Ich seufzte.
Warum nicht? Vielleicht wird es allmählich Zeit .
»Okay«, sagte ich. »Du kannst deine Party haben.«
Anouk hüpfte vor Freude. »Cool! Meinst du, es schneit?«
»Wer weiß.«
»Und können die Leute sich verkleiden?«
»Wenn sie wollen, Nanou.«
»Und wir können einladen, wen wir wollen?«
»Ja, klar.«
»Auch Roux?«
Ich hätte es wissen müssen. »Warum nicht?«, sagte ich mit einem erzwungenen Lächeln. »Wenn er noch hier ist.«
Ich habe mit Anouk noch gar nicht richtig über Roux gesprochen. Ich habe ihr nicht erzählt, dass er ein paar Straßen weiter für Thierry arbeitet. Lügen durch Verschweigen zählt zwar nicht ganz, und doch bin ich mir nicht sicher, wie sie reagieren würde, wenn sie es wüsste.
Gestern Abend habe ich wieder die Karten gelegt. Ich weiß nicht, wieso, aber
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