Himmlische Wunder
Versuchen Sie eine. Dann können Sie sich ein Urteil bilden.«
Madame zögerte. Ich sah, wie ihr natürliches Misstrauen gegen den aus der Schachtel aufsteigenden Duft ankämpfte, gegen den rauchigen Espressoduft des Kakaos, gegen den Hauch von Nelke, Kardamom, Vanille und gegen das Armagnacaroma – der Duft einer verlorenen Zeit, die bittere Süße der untergegangenen Kindheit.
»Sie verteilen also Ihre Pralinen an sämtliche Hotels in Paris? Damit machen Sie aber nicht viel Profit, das kann ich Ihnen prophezeien.«
Ich lächelte. »Man muss erst investieren, um später zu profitieren.«
Sie nahm sich eine Trüffel.
Biss hinein.
»Hm. Nicht schlecht.«
Ich glaube, sie untertreibt. Ihre Augen sind halb geschlossen, ihre schmalen Lippen werden feucht.
»Schmeckt sie Ihnen?«
Es kann nicht anders sein. Das verführerische Zeichen des Blutmondes verleiht ihrem Gesicht einen rosigen Glanz. Jetzt sehe ich Vianne noch deutlicher in ihr, allerdings eine Vianne, die müde und alt geworden ist, verbittert durch die Jagd nach Wohlstand, eine kinderlose Vianne, die kein Ventil für ihre Liebe hat, außer ihrem Hotel und ihren Porzellanpuppen.
»Wirklich etwas Besonderes«, sagte Madame.
»Die Karte liegt in der Schachtel, wie gesagt. Kommen Sie doch mal bei uns vorbei.«
Mit geschlossenen Augen nickte Madame verträumt.
»Fröhliche Weihnachten«, sagte ich.
Madame antwortete nicht.
Und die blauäugige Puppe mit Mantel und Pelzmütze lächelte mir unter ihrer Glasglocke heiter zu, wie ein Kind, das in einer Eiskugel erstarrt ist.
8
S AMSTAG , 15 . D EZEMBER
Ich konnte es kam erwarten, Roux wiederzusehen. Ich wollte wissen, ob sich etwas verändert hatte – ob es mir gelungen war, den Wind zu drehen. Ich hatte ein Zeichen erhofft. Schnee oder so etwas. Das Nordlicht. Oder einen überraschenden Wetterwechsel. Aber als ich heute Morgen aufgestanden bin, war der Himmel so gelb und die Straße so nass wie sonst, und obwohl ich Maman genau beobachtete, fiel mir auch an ihr nicht der geringste Unterschied auf – sie arbeitete in der Küche wie immer, die Haare vernünftig zurückgebunden und mit einer Schürze über ihrem schwarzen Kleid.
Klar, man muss diesen Dingen Zeit lassen. Sie verändern sich nicht so schnell, und ich glaube, es war nicht realistisch von mir zu erwarten, dass alles auf einmal passiert, in einer einzigen Nacht – dass Roux zurückkommt und Maman begreift, was mit Thierry los ist. Und dass es dann auch noch schneit. Also blieb ich ganz gelassen, zog mit Jean-Loup los und wartete sehnsüchtig auf den Nachmittag.
Drei Uhr, bei Dalidas Grab. Man kann es nicht übersehen – eine lebensgroße Statue, aber ich habe keine Ahnung, wer Dalida war, bestimmt irgendeine Schauspielerin. Ich kam ein paar Minuten zu spät, und Roux war schon da. Für zehn nach drei war es schon ziemlich dunkel, und als ich die Stufen zu dem Grab hinaufrannte, sah ich ihn auf einem Grabstein ganz in der Nähe sitzen. Er sah selbst aus wie eine Statue, ganz still in seinem langen grauen Mantel.
»Ich habe schon gedacht, du kommst nicht.«
»Es tut mir schrecklich leid, dass ich mich verspätet habe.« Ich umarmte ihn. »Aber ich musste erst noch Jean-Loup loswerden.«
Roux grinste. »Wie du das sagst, klingt es so makaber. Wer ist Jean-Loup?«
Ich wurde ein bisschen verlegen, als ich es ihm erklärte: »Ein Freund aus meiner Klasse. Er mag den Friedhof. Er fotografiert hier immer. Und er denkt, dass ihm vielleicht eines Tages mal ein Geist über den Weg läuft.«
»Na, da sind die Chancen gut«, sagte Roux und musterte mich fragend. »Also, was ist los?«
Oh, Mann. Ich wusste nicht, wie ich anfangen sollte. In den letzten Wochen ist so viel passiert und –
»Ehrlich gesagt, wir haben uns gestritten.«
Ich weiß, es ist doof, aber mir schossen Tränen in die Augen. Mit Roux hatte das nichts zu tun, und ich hatte ja auch nicht vorgehabt, darüber zu reden, aber jetzt hatte ich es doch gesagt und –
»Worüber?«
»Ach, was ganz Blödes. Nichts Wichtiges.«
Roux lächelte mich an. Es war ein Lächeln wie bei manchen von diesen Kirchenstatuen. Er sieht ja überhaupt nicht aus wie ein Engel, aber trotzdem, irgendwie schien es so geduldig, ein Ich-kannden-ganzen-Tag-warten-wenn-nötig- Lächeln.
»Na ja, er will nicht in die Chocolaterie kommen.« Ich war sauer und hätte am liebsten losgeheult, und ganz besonders ärgerte ich mich über mich selbst, weil ich es Roux gesagt hatte. »Er behauptet, er fühlt
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