Himmlische Wunder
normalerweise ist er ja eher wortkarg.
»Ich war extrem wütend gestern. Weil Vianne mir so etwas Wichtiges verschwiegen hat. Vor lauter Wut konnte ich gar nicht geradeaus denken, ich konnte nicht zuhören, nichts aufnehmen. Seither habe ich viel nachgedacht«, sagte er. »Ich frage mich, wie die Vianne Rocher, die ich gekannt habe, sich derart verändern konnte. Zuerst habe ich gedacht, es liegt nur an Thierry – aber ich kenne solche Typen. Und ich kenne Vianne. Ich weiß, sie ist zäh. Und ich weiß auch, sie würde es niemals zulassen, dass jemand wie Le Tresset ihr Leben bestimmt – nach allem, was sie durchgemacht hat –« Er schüttelte den Kopf. »Nein, wenn sie wirklich in Schwierigkeiten steckt, dann liegt es nicht an ihm.«
»An wem dann?«
Er schaute mich an. »Ich glaube, dass mit deiner Freundin Zozie irgendetwas nicht stimmt. Ich bekomme es nicht richtig zu fassen. Aber ich spüre es ganz deutlich, wenn sie da ist. Etwas an ihr ist zu perfekt. Etwas stimmt nicht. Es ist fast – gefährlich.«
»Was meinst du?«
Wieder zuckte Roux die Achseln.
So allmählich ärgerte ich mich echt. Erst Jean-Loup und jetzt auch noch Roux. Ich versuchte, ihm die Situation zu erklären.
»Sie hilft uns, Roux – sie arbeitet im Laden und passt auf Rosette auf, sie bringt mir alles Mögliche bei –«
»Was heißt alles Mögliche?«
Na ja, wenn er Zozie nicht leiden konnte, wollte ich ihm das natürlich nicht erzählen. Ich steckte wieder die Hand in die Tasche. Die kleine Puppe fühlte sich an wie ein in Stoff gewickelter Knochen. »Du kennst sie nicht, deshalb bist du misstrauisch. Du solltest ihr eine Chance geben.«
Roux machte ein verschlossenes Gesicht. Wenn er mal eine Idee hat, kann man ihn nicht so schnell davon abbringen. Es ist wirklich unfair – meine beiden besten Freunde!
»Wenn du sie kennen würdest, fändest du sie bestimmt nett. Das weiß ich. Sie kümmert sich um uns.«
»Wenn ich das glauben würde, hätte ich mich schon verabschiedet. Aber so wie es aussieht –«
»Du bleibst?«
Ich vergaß, dass ich böse auf ihn war, und fiel ihm um den Hals. »Du kommst zu unserer Party an Heiligabend?«
»Na ja –« Er seufzte.
»Super! Dann kannst du ja auch Zozie näher kennenlernen. Und Rosette – ach, Roux, ich bin so froh, dass du bleibst –«
»Ja, ich auch.«
Er klang allerdings nicht so, als würde er sich freuen. Im Gegenteil, er schien ehrlich besorgt. Aber mein Plan hat funktioniert, und das ist das Einzige, was zählt. Rosette und ich haben bewirkt, dass der Wind dreht –
»Wie sieht’s denn mit Geld aus?«, fragte ich ihn. »Ich habe hier –« Ich kramte in meinem Geldbeutel. »Sechzehn Euro und ein paar Cent, wenn dir das was bringt. Ich wollte Rosette ein Geburtstagsgeschenk kaufen, aber –«
»Nein«, sagte er. Etwas zu scharf, fand ich. Geld konnte er noch nie gut annehmen, also war mein Angebot vielleicht ein Fehler gewesen. »Mir geht es gut, Anouk.«
Ich fand aber nicht, dass er aussah wie jemand, dem es gut geht. Und er bekam doch keinen Lohn mehr –
Ich machte das Mais-Zeichen und presste meine Handfläche gegen seine Hand. Das ist ein Glückszeichen: Reichtum, Wohlstand, Essen und alles. Ich weiß nicht, wie es funktioniert, aber es hilft wirklich. Zozie hat es in der Chocolaterie eingesetzt, damit mehr Kunden Mamans Trüffel kaufen. Das bringt Roux natürlich nichts, aber ich hoffe, dass das Zeichen auch irgendetwas anderes bewirken kann. Vielleicht findet er ja eine neue Stelle, oder er gewinnt im Lotto, oder er findet Geld auf der Straße. Und ich machte, dasses vor meinem inneren Auge glühte, wodurch es dann wie Glitzerstaub auf seiner Haut leuchtete. Das sollte reichen, Roux , dachte ich. Und so ist es auch kein Almosen .
»Kommst du vor Heiligabend bei uns vorbei?«
»Keine Ahnung. Auf jeden Fall muss ich vorher noch ein paar Dinge regeln.«
»Aber du kommst zur Party? Versprochen?«
»Versprochen.«
»Großes Ehrenwort?«
»Großes Ehrenwort.«
9
S ONNTAG , 16 . D EZEMBER
Roux ist heute nicht zur Arbeit erschienen. Er war schon das ganze Wochenende nicht auf der Baustelle. Offenbar ist er am Freitag früher gegangen, hat sich in der Pension, in der er wohnte, abgemeldet und sich seither dort nicht mehr blicken lassen.
Wahrscheinlich hätte ich das wissen müssen. Schließlich habe ich ihn ja gebeten zu gehen. Wieso fühle ich mich dann so allein und verlassen? Und warum halte ich ständig nach ihm Ausschau?
Thierry kocht
Weitere Kostenlose Bücher