Himmlische Wunder

er habe mich und Maman so vermisst und es tue ihm sehr weh, dass sie Thierry heiraten will. Dann würde ich ihm von Rosette erzählen, und er würde verstehen, dass er nicht weggehen konnte, und er würde bei uns in der Chocolaterie leben, damit Maman Thierry nicht heiraten musste und wir eine richtige Familie sein konnten.
    Na ja, wenn ich es mir überlege, dann finde ich jetzt auch, dass es ziemlich schmalzig klingt.
    »Aber was ist mit mir und Rosette?«, sagte ich. »An Heiligabend machen wir ein großes Fest.« Ich holte seine Karte aus meiner Schultasche und hielt sie ihm hin. »Du musst unbedingt kommen«, drängte ich verzweifelt. »Jetzt hast du eine offizielle Einladung und alles.«
    Er lachte bitter. »Ich soll kommen? Du musst an irgendeinen anderen Vater denken.«
    Oh, Mann, dachte ich. Was für ein Chaos. Je mehr ich mit ihm zu reden versuche, desto wütender wird er, und mein neues System, das bei Nico und Mathilde und Madame Luzeron supergut funktioniert hat, bringt bei Roux überhaupt nichts.
    Wenn ich nur seine Puppe schon fertig hätte.
    Und dann hatte ich eine Inspiration.
    »Deine Haare sind ja ganz staubig«, sagte ich und zerwuschelte ihm die Haare.
    »Au!«, rief Roux.
    »Entschuldigung«, murmelte ich.
    »Kann ich dich morgen noch mal sehen?«, sagte ich dann. »Und mich richtig von dir verabschieden?«
    Er schwieg so lange, dass ich schon dachte, er würde mir die Bitte abschlagen.
    Dann seufzte er. »Wir treffen uns um drei auf dem Friedhof. Bei Dalidas Grab.«
    »Einverstanden«, sagte ich und lächelte in mich hinein.
    Roux bemerkte mein Lächeln. »Ich bleibe aber nicht hier«, sagte er.
    Ganz wie du meinst, Roux , dachte ich.
    Und ich öffnete die Hand: Drei rote Haare hatten sich zwischen meinen Fingern verfangen.
    Denn diesmal wird Roux, der immer nur tut, was er will, zur Abwechslung einmal das tun, was ich will. Jetzt bin ich dran. Ich entscheide. Er muss zu unserem Fest an Heiligabend kommen, koste es, was es wolle. Wahrscheinlich will er nicht, aber er wird kommen – selbst wenn ich den Hurakan anrufen muss, damit der ihn anschleppt.

6

    F REITAG , 14 . D EZEMBER
    Anrufung des Windes.
    Zuerst die Kerzen anzünden. Rote Kerzen sind gut, sie bringen Glück und so, aber weiße sind natürlich auch nicht schlecht. Wenn man es ganz richtig machen will, nimmt man am besten schwarze Kerzen, weil Schwarz die Farbe des Jahresendes ist, der langsamen, dunklen Zeit zwischen dem Día de los Muertos und dem Dezembervollmond, wenn das Jahr sich wendet.
    Dann mit gelber Kreide einen Kreis auf den Fußboden zeichnen. Das Bett müssen wir wegschieben und den blauen Flickenteppich auch, damit wir den Holzfußboden nehmen können. Wenn wir fertig sind, muss alles wieder zurück an seinen Platz, damit Maman keine Spuren findet. Maman würde das alles nicht verstehen, aber –
    Maman braucht ja nichts zu erfahren.
    Du wirst sehen, dass ich meine roten Schuhe trage. Ich weiß auch nicht, warum – irgendwie habe ich das Gefühl, sie bringen Glück. Als könnte mir nichts Schlimmes passieren, wenn ich diese Schuhe anhabe. Und dann muss man mit buntem Farbpulver oder mit buntem Sand (ich nehme Kristallzucker) die Punkte am Rand des Kreises markieren. Schwarz: Norden, Weiß: Süden, Gelb: Osten, Rot: Westen. Man muss den Sand rund um den Kreis verstreuen, um die kleinen Windgötter friedlich zu stimmen.
    Und jetzt zu den Opfergaben – Weihrauch und Myrrhe. Das haben die drei Weisen aus dem Morgenland mitgebracht, weißt du, für das Jesuskind in der Krippe. Ich denke, wenn die Gabengut genug waren für das Jesuskind, dann sind sie auch gut genug für uns. Und Gold – tja, ich nehme in Goldpapier gewickelte Schokolade. Das müsste genügen, findest du nicht? Zozie sagt, die Azteken haben den Göttern Schokolade dargebracht. Und Blut natürlich – aber ich hoffe, dass sie das nicht unbedingt von uns verlangen. Ein Nadelstich – aua – also, das reicht –, und jetzt zünden wir den Weihrauch an, und es kann losgehen.
    Setze dich mitten in den Kreis, im Schneidersitz, und nimm deine Wäscheklammerpuppen in die Hände. Außerdem brauchst du noch eine Tüte mit rotem Kristallzucker, den du auf den Boden schüttest, damit du die Zeichen malen kannst.
    Zuerst kommt das Zeichen des Mondhasen. Pantoufle kann das Zeichen für mich übernehmen, hier am Rand des Kreidekreises. Dann machen wir das Zeichen Blauer Kolibri Tezcatlipoca, für den Himmel links von mir, und das Zeichen Roter Affe