Himmlische Wunder
gestehen, ich freue mich noch viel mehr darauf, als ich gedacht hätte. Die Vorstellung, ihr in der Schlussrunde gegenüberzutreten, wenn wir beide wissen, worum es für uns geht –
Das ist ein Spiel, bei dem sich der Einsatz wirklich lohnt.
Ich will meine bisherigen Schritte noch einmal zusammenfassen. Neben all den anderen Punkten, die mich interessieren, habe ich mich sehr intensiv um den Inhalt von Yannes Piñata bemüht und dabei Verschiedenes herausgefunden.
Erstens ist sie nicht Yanne Charbonneau.
Gut, das wussten wir bereits. Was aber noch um einiges spannender ist: Sie ist auch nicht Vianne Rocher. Jedenfalls legt das der Inhalt ihrer Kiste nahe. Mir war klar, dass mir bisher etwas Wichtiges entgangen sein musste, aber neulich habe ich, als sie nicht im Haus war, endlich genau das entdeckt, wonach ich die ganze Zeit gesucht habe.
Ich hatte es vorher schon gesehen, aber die Bedeutung dieses Gegenstandes war mir nicht bewusst gewesen, weil ich so auf Vianne Rocher fixiert war. Aber er befindet sich in der Kiste und hängt an einem verblassten roten Band: ein silberner Glücksbringer, der von einem billigen Armband stammen könnte oder von einem Weihnachtsknallbonbon. Es ist eine kleine Katze, die mit der Zeit schwarz angelaufen ist.
Genau wie ich reist Vianne mit leichtem Gepäck. Von den Gegenständen, die sie aufbewahrt, ist keiner nebensächlich. Jeder wurde aus einem ganz bestimmten Grund mitgenommen, und das gilt natürlich auch für den Glücksbringer. Er wird in dem Zeitungsartikel erwähnt, der so brüchig und vergilbt ist, dass ich es nicht gewagt hatte, ihn vollständig zu entfalten: Es ist der Bericht über die achtzehn Monate alte Sylviane Caillou, die vor einer Apotheke entführt wurde, vor mehr als dreißig Jahren.
Hat sie je versucht, der Sache auf die Spur zu kommen? Mein Gefühl sagt mir: nein. Man sucht sich seine Familie aus , wie sie sagt. Und die junge Frau – ihre Mutter, deren Name in dem Artikel gar nicht erwähnt wird – ist für sie nicht mehr als ihre DNA . Für mich jedoch –
Man kann mich neugierig nennen. Ich habe sie im Internet gesucht. Es hat eine ganze Weile gedauert – jeden Tag verschwinden Kinder, und es handelt sich ja um einen alten Fall, eine Akte, die längst geschlossen wurde und sowieso nie besonders interessant war –, aber dann habe ich doch etwas gefunden und landete schließlich beim Namen von Sylvianes Mutter. Sie war einundzwanzig, als das Baby entführt wurde, und laut Website ihres Schuljahrgangstreffens ist sie geschieden, hat keine Kinder, lebt immer noch in Paris und führt ein kleines Hotel.
Das Hotel heißt Le Stendhal und befindet sich an der Ecke Avenue Gambetta und Rue Matisse. Er hat nur zwölf Zimmer, einen schon etwas kahlen Weihnachtsbaum mit viel Lametta und ein plüschig ausgestattetes Foyer. Beim Kamin ist ein kleiner runder Tisch, auf dem unter einer Glasglocke eine Porzellanpuppe steht, steif und starr mit einem pinkfarbenen Seidenkleidchen. Eine zweite Puppe, in einem Brautkleid, hält am Fuß der Treppe Wache. Eine dritte – mit blauen Augen, in einem roten, pelzbesetzten Mantel und passender Mütze – schmückt die Rezeption.
Und dort, hinter dem Empfangstisch, steht Madame selbst: eine korpulente Frau mit verhärmtem Gesicht und schütteren Haaren – typisch für jemanden, der ständig eine neue Diät ausprobiert. Und mit den Augen ihrer Tochter –
»Madame?«
»Was kann ich für Sie tun?«
»Ich komme vom Le Rocher de Montmartre. Wir machen eine Werbeaktion für unsere selbst gemachten Pralinen, und ich wollte Sie fragen, ob ich Ihnen diese kleinen Kostproben überreichen darf –«
Madame verzog das Gesicht. »Nein, danke. Kein Interesse.«
»Es ist völlig unverbindlich. Versuchen Sie die Pralinen doch einfach und dann –«
»Nein, besten Dank.«
Selbstverständlich hatte ich genau diese Reaktion erwartet. Die Einwohner von Paris sind misstrauisch, und mein Angebot klang viel zu gut, um wahr zu sein. Trotzdem holte ich eine Schachtel mit unseren Spezialitäten aus der Tasche und stellte sie geöffnet auf die Theke. Zwölf Trüffel, in Kakaopulver gewälzt, jede in ihrer kleinen Kuhle aus knisterndem Goldpapier, eine gelbe Rose in der Ecke, das Symbol der Herrin des Blutmondes seitlich in den Deckel geritzt.
»In der Schachtel finden Sie unsere Karte«, sagte ich. »Falls die Pralinen Ihnen schmecken, können Sie direkt bei uns bestellen.« Ich zuckte die Achseln. »Es ist ein Geschenk des Hauses.
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