Himmlische Wunder
er sich immer verkrampft, sobald er Rosette anschauen muss.
Dieses hässliche Wort.
Natürlich weiß ich schon lange, dass er sich nicht besonders wohlfühlt in Rosettes Gegenwart. Wie immer überkompensiert er sein Unbehagen durch Freundlichkeit, aber diese Freundlichkeit ist aufgesetzt, wie bei jemandem, der einen gefährlichen Hund streichelt.
Und jetzt wird mir auch klar, dass es nicht nur um Rosette geht. Der ganze Laden hier löst bei ihm Unbehagen aus, der Laden, denwir ohne seine Hilfe umgestaltet haben. Jede Portion Pralinen, jeder Verkauf, jeder Kunde, den wir namentlich begrüßen, sogar der Stuhl, auf dem er sitzt – alles erinnert ihn daran, dass wir drei unabhängig sind, dass wir ein Leben haben, das nichts mit ihm zu tun hat, dass uns eine Vergangenheit miteinander verbindet, in der Thierry Le Tresset keine Rolle spielte.
Aber Thierry hat seine eigene Vergangenheit. Die ihn zu dem Mann macht, der er heute ist. Alle seine Ängste haben dort ihre Wurzeln. Seine Ängste, seine Hoffnungen, seine Geheimnisse.
Ich schaute auf die vertraute Granitplatte hinunter, auf der ich die Schokolade abkühlen lasse. Die Platte ist sehr alt, schwarz von den Jahren. Sie war schon abgenutzt, als ich sie bekommen habe, und man sieht ihr an, dass sie viel gebraucht wurde. Im Stein sind Quarzflecken, die das Licht reflektieren, und ich sehe, wie sie glänzen, während die Schokolade abkühlt, bevor sie noch einmal von mir erhitzt und erneut abgekühlt wird.
Ich möchte deine Geheimnisse gar nicht erfahren, denke ich.
Aber die Granitplatte weiß es besser. Mit ihren Glimmerstellen blinzelt und funkelt sie mir zu, fängt meinen Blick ein, hält ihn fest. Ich kann sie schon fast sehen, die Bilder, die sich in dem Stein widerspiegeln. Während ich hinschaue, nehmen sie Gestalt an, bekommen eine Bedeutung, die Ereignisse der Vergangenheit, die Thierry zu dem Menschen machten, der er jetzt ist.
Da ist Thierry im Krankenhaus. Zwanzig Jahre jünger. Vielleicht noch mehr. Er wartet vor einer verschlossenen Tür. In der Hand hält er zwei Geschenke, beide mit einer Schleife – die eine rosarot, die andere hellblau. Er ist auf alle Eventualitäten vorbereitet.
Jetzt ist er in einem Wartezimmer. Die Wände sind mit Comicfiguren bemalt. Dicht neben ihm sitzt eine Frau mit einem Kind im Arm. Der Junge ist etwa sechs. Er starrt die ganze Zeit mit leerem Blick zur Decke, und nichts, weder Puh der Bär noch Tigger noch Mickymaus, bringt seine Augen zum Leuchten.
Ein Gebäude, kein richtiges Krankenhaus. Und ein Junge, nein, ein junger Mann am Arm einer hübschen Krankenschwester. Der junge Mann sieht aus wie fünfundzwanzig. Korpulent, wie sein Vater,aber nach vorn gebeugt, der Kopf scheint zu schwer für seinen Hals, und sein Lächeln ist so leer wie das einer Sonnenblume.
Und jetzt verstehe ich endlich. Das ist das Geheimnis, das er zu verstecken versucht. Ich verstehe das breite, freundliche Lächeln, wie bei einem Mann, der einem an der Haustür eine falsche Religion aufschwatzen will. Das ist der Grund, warum er nie über seinen Sohn spricht! Daher der extreme Perfektionismus, deshalb schaut er Rosette so an …
Ich seufzte tief.
»Thierry«, sagte ich. »Es ist in Ordnung. Du musst mich nicht mehr anlügen.«
»Dich anlügen?«
»Wegen deines Sohnes.«
Er erstarrte, und ich konnte auch ohne die Granitplatte sehen, wie seine innere Erregung immer stärker wurde. Er war bleich und fing an zu schwitzen, und die Wut, die vorübergehend von der Angst abgelöst worden war, kehrte mit Macht zurück, wie ein böser Sturm. Er stand auf, plötzlich groß wie ein Bär, warf seine Kaffeetasse um und verstreute die bunt eingewickelten Pralinen quer über den Tisch.
»Mit meinem Sohn ist alles in Ordnung«, verkündete er, viel zu laut für den kleinen Raum. »Alan arbeitet im Baugewerbe. Ganz der Vater. Ich sehe ihn nicht oft, aber das heißt nicht, dass er mich nicht respektiert – und es heißt auch nicht, dass ich nicht stolz auf ihn bin –« Jetzt brüllte er regelrecht, und Rosette hielt sich die Ohren zu. »Wer hat etwas anderes behauptet? Etwa dieser Roux? Hat der Mistkerl herumgeschnüffelt?«
»Mit Roux hat das gar nichts zu tun«, entgegnete ich. »Wenn du dich für deinen eigenen Sohn schämst, wie willst du dann für Rosette sorgen?«
»Yanne, bitte. Das ist doch ein völlig anderes Thema. Ich schäme mich nicht. Aber er ist mein Sohn. Sarah konnte keine Kinder mehr bekommen, und ich wollte doch nur, dass
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