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Himmlische Wunder

Himmlische Wunder

Titel: Himmlische Wunder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joanne Harris
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Knopfschachtel spielt; wie sie über den morgigen Geburtstag redet; wie sie nach draußen rennt, um zu sehen, ob es endlich schneit; wie sie wieder hereinkommt; wie sie die Veränderungen am Adventshaus registriert; wie sie ein paar Figuren anders aufstellt und dann noch einmal nachschaut, ob es schneit – der Schnee wird schon kommen, wenigstens an Heiligabend muss es schneien, weil sie Schnee doch über alles liebt –
    Es ist Zeit, den Laden zu schließen. Ja, es ist sogar schon zwanzig Minuten nach Ladenschluss, als Madame sich endlich aus ihrer Trance aufrafft.
    »Was für ein entzückendes Kind Sie haben!«, sagt sie, als sie aufsteht und sich die Schokoladenkrümel wegbürstet. Wehmütig schaut sie zur Küchentür, hinter der Anouk gerade mit Rosette verschwunden ist. »Sie spielt mit dem anderen Mädchen wie mit einer Schwester.«
    Das entlockt mir ein Lächeln, ich sage aber nichts.
    »Haben Sie Kinder?«, frage ich sie.
    Sie zögert einen Moment. Dann nickt sie. »Ja, eine Tochter.«
    »Besuchen Sie Ihre Tochter an Weihnachten?«
    Ach, welche Qualen so eine harmlose Frage verursachen kann – ich sehe es an ihren Farben, an dem grellen Licht, das wie ein Blitz durch alles hindurchsaust.
    Sie schüttelt den Kopf, wagt nicht zu sprechen. Selbst jetzt, nach all den Jahren, ist das Gefühl immer noch so stark, dass es sie überwältigen kann. Wann wird der Schmerz endlich vergehen, wie ihr die Leute versprochen haben? Er lässt nicht nach, er übertönt alles andere: Ehemann, Geliebter, Mutter und Freunde werden nebensächlich, weil sich immer wieder dieser Abgrund der Verzweiflung auftut, den der Verlust eines Kindes aufreißt –
    »Ich habe sie verloren«, murmelt sie leise.
    »Ach, das tut mir leid.« Ich lege ihr die Hand auf den Arm. Ich trage kurze Ärmel, und mein Armband mit den Glücksbringern, mit all den hübschen kleinen Figürchen, klimpert unüberhörbar. Ihr Blick fällt auf das glitzernde Silber –
    Die kleine Katze ist im Laufe der Jahre schwarz geworden, sie sieht eher aus wie der Jaguar des Schwarzen Tezcatlipoca als wie der billige Anhänger von damals.
    Madame bemerkt die Katze und erstarrt, denkt natürlich sofort, es ist völlig absurd, solche Zufälle kann es gar nicht geben, es ist nur ein typisches Armband mit Glücksbringern und hat nichts zu tun mit dem Babyarmband und seinem kleinen Silberkätzchen –
    Aber – was wäre, wenn es doch etwas damit zu tun hätte, denkt sie. Manchmal hört man von den seltsamsten Zufällen – nicht nur in Filmen, auch im wirklichen Leben –
    »Da-das ist ein interessantes A-armband.« Ihre Stimme zittert so, dass sie die Wörter gar nicht richtig über die Lippen bringt.
    »Danke. Ich habe es schon sehr lange.«
    »Wirklich?«
    Ich nicke. »Ja, jeder dieser Glücksbringer hat eine Geschichte. Der hier erinnert mich an den Tod meiner Mutter.« Ich deute auf den Anhänger, der aussieht wie ein Sarg. Er stammt aus Mexiko-Stadt, aus irgendeiner Piñata , und auf dem Sargdeckel ist ein kleines schwarzes Kreuz.
    »Ihre Mutter ist – ?«
    »Ja – aber ich habe sie nur so genannt. Meine richtigen Eltern habe ich nie kennengelernt. Den Schlüssel hier habe ich zu meinem einundzwanzigsten Geburtstag bekommen. Aber die kleine Katze ist mein ältester und wichtigster Talisman. Ich habe sie schon immer – ich glaube, schon bevor ich adoptiert wurde.«
    Sie starrt mich an, ist wie gelähmt. Es kann nicht sein, und sie weiß es. Aber ihre weniger rationale Seite besteht darauf, dass Wunder geschehen, dass es Magie gibt. Es ist die Stimme der Frau, die sie früher war, der Frau, die sich – mit knapp siebzehn – ineinen zweiunddreißigjährigen Mann verliebte, der ihr versicherte, er liebe sie, und dem sie glaubte.
    Und was ist mit dem kleinen Mädchen? Hat sie nicht etwas in ihr erkannt? Etwas, das am Herzen zupft und zerrt, wie ein Kätzchen, das mit einem Wollknäuel spielt –
    Manche Menschen – ich zum Beispiel – sind geborene Zyniker. Aber wer einmal glaubt, glaubt immer. Ich spüre, dass Madame zu den Glaubenden gehört. Ich habe es gleich gewusst, als ich die Porzellanpuppen im Foyer des Le Stendhal gesehen habe. Sie ist eine alternde Romantikerin, verbittert, enttäuscht und dadurch umso verletzlicher, und ich muss nur ein einziges Wort sagen, und ihre Piñata wird sich öffnen wie eine Blume.
    Ein Wort? Ich meine natürlich: einen Namen.
    »Ich muss jetzt leider den Laden schließen, Madame.« Ich schiebe sie sanft zur Tür.

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