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Himmlische Wunder

Himmlische Wunder

Titel: Himmlische Wunder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joanne Harris
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»Aber wenn Sie wiederkommen wollen – wir machen an Heiligabend ein Fest. Falls Sie keine anderen Pläne haben – vielleicht haben Sie ja Lust, auf ein Stündchen vorbeizuschauen?«
    Sie sieht mich an, und ihre Augen sind hell wie Sterne.
    »Oh, ja«, flüstert sie. »Danke. Ich komme gern.«

2

    M ITTWOCH , 19 . D EZEMBER
    Heute Morgen ist Anouk in die Schule gegangen, ohne sich zu verabschieden. Ich dürfte mich eigentlich nicht wundern – so macht sie das schon die ganze Woche: Sie erscheint spät zum Frühstück, begrüßt uns mit einem allgemeinen Hallo , schnappt sich ein Croissant und verschwindet in der Dunkelheit.
    Aber das ist meine Anouk, die mir früher vor lauter Überschwang das Gesicht abküsste und quer über die Straße Ich liebe dich zugerufen hat – und jetzt ist sie so still und so mit sich selbst beschäftigt, dass ich mich allein und verlassen fühle und mich eine eisige Angst packt. Die Zweifel, die mich quälen, seit sie auf die Welt gekommen ist, werden immer stärker, von Woche zu Woche.
    Klar, sie wird älter. Es interessieren sie andere Dinge. Ihre Schulfreundinnen. Die Hausaufgaben. Die Lehrer. Vielleicht ein Freund (Jean-Loup Rimbault?). Oder der süße Rausch der ersten Verliebtheit. Womöglich gibt es auch noch viel mehr, geflüsterte Geheimnisse, große Pläne – Dinge, die sie ihren Freundinnen erzählt, die ihre Mutter aber auf keinen Fall erfahren darf, weil sie sich schon beim Gedanken daran vor Peinlichkeit windet.
    Alles absolut normal, sage ich mir. Und trotzdem kann ich das Gefühl der Zurückweisung fast nicht mehr ertragen. Wir sind nicht wie andere Leute. Anouk und ich sind anders. Das bringt zwar viele Unannehmlichkeiten mit sich, aber ich kann es nicht länger ignorieren.
    Ich spüre, dass mich dieses Eingeständnis verändert. Ich bin gereizt und fange wegen jeder Kleinigkeit an zu nörgeln, und wie sollmein Sommerkind wissen, dass der Unterton in meiner Stimme nicht Ärger ist, sondern Angst?
    Ging es meiner Mutter ebenso? Hat sie auch unter dieser Verlustangst gelitten, die schlimmer ist als die Angst vor dem Tod, während sie, wie alle Mütter, vergebens versuchte, das unerbittliche Rad der Zeit aufzuhalten? Ist sie mir gefolgt, so wie ich Anouk folge, und hat auf der Straße die Krümel aufgelesen? Die Spielsachen, die längst aussortiert wurden, die abgelegten Kleider, die Gutenachtgeschichten, die nicht erzählt wurden, alles achtlos weggeworfen, während das Kind voller Erwartung in die Zukunft läuft, weg von der Kindheit, weg von mir.
    Es gibt eine Geschichte, die meine Mutter mir immer wieder erzählt hat: Eine Frau wünschte sich sehnlich ein Kind, aber weil sie nicht schwanger werden konnte, formte sie an einem kalten Wintertag ein Kind aus Schnee. Sie schenkte ihm ihre ganze Zuwendung, sie kleidete es an, sie liebte es und sang für es, bis die Winterkönigin Mitleid mit der Frau bekam und dem Schneekind Leben einhauchte.
    Die Frau – die Mutter – war überwältigt. Sie dankte der Winterkönigin unter Freudentränen und versprach, ihrer neuen Tochter werde es nie an etwas mangeln und in ihrem ganzen Leben solle ihr kein Leid widerfahren.
    »Aber Ihr müsst gut auf sie achtgeben, liebe Frau«, warnte die Winterkönigin. »Gleich und gleich gesellt sich gern, und alles verändert sich, und die Welt dreht sich, zum Guten oder zum Schlechten. Euer Kind darf nicht in die Sonne gehen, achtet auf strengen Gehorsam, solange Ihr nur könnt. Denn ein Kind der Sehnsucht ist niemals zufrieden, nicht einmal mit der Liebe einer Mutter.«
    Doch die Mutter hörte ihr nicht richtig zu. Sie nahm das Kind mit nach Hause, sie liebte das Mädchen und sorgte gut für die Kleine, genau wie sie es der Winterkönigin versprochen hatte. Die Zeit verging, das Kind wuchs mit magischer Schnelligkeit heran, weiß wie Schnee und schwarz wie Schlehen und schön wie ein klarer Wintertag.
    Dann kam der Frühling, der Schnee begann zu schmelzen, unddas Schneekind wurde immer unzufriedener. Sie wolle hinaus ins Freie, sagte die Kleine, und mit den anderen Kindern spielen. Selbstverständlich verbot die Mutter es ihr, aber das Mädchen gab keine Ruhe. Sie weinte, wurde kränklich, weigerte sich zu essen, bis die Mutter schließlich, wenn auch ungern, nachgab.
    »Aber geh nicht in die Sonne«, warnte sie ihr Kind. »Und zieh weder deinen Mantel noch deine Mütze aus.«
    »Ja, natürlich«, sagte das Kind und hüpfte davon.
    Den ganzen Tag spielte das Schneekind draußen. Es war

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