Himmlische Wunder
war es bis jetzt zu mild, und wir hatten nur Schneeregen und dichten Nebel.
»Scheußliches Wetter«, murmelt Madame. Natürlich sieht sie das so, denn für sie haben die Wolken keinen Zauber, nein, sie sind nur ein Ausdruck der Umweltverschmutzung; sie erkennt in der Weihnachtsbeleuchtung nicht die Sterne, sondern sieht nur die Glühbirnen, sie spürt nicht die tröstliche Verheißung, nein, für sie gibt es nur endlose, hektische Menschenmassen, die sich ohne Wärme aneinanderreiben und in letzter Minute nach Geschenken fahnden, die dann ohne Freude ausgepackt werden, oder aber Leute, die zu irgendeinem Essen rennen, das sie nicht genießen werden, mit Bekannten, die sie seit Jahren nicht mehr getroffen haben und die sie auch jetzt lieber nicht sehen würden.
Durch den Rauchenden Spiegel studiere ich ihr Gesicht. In vieler Hinsicht ist es sehr hart, das Gesicht einer Frau, deren persönliches Märchen nie ein Happyend hatte. Sie hat ihre Eltern verloren, ihren Mann und ihr Kind, sie hat das alles übertüncht durch sture Arbeit, sie hat so viel geweint, dass sie schon seit Jahren keine Tränen mehr hat, und sie kann jetzt weder mit sich selbst noch mit sonst irgendjemandem Mitleid empfinden. Sie hasst Weihnachten, und Silvester ödet sie an.
All das sehe ich durch das Auge des Schwarzen Tezcatlipoca. Und nun, mit ein bisschen Konzentration, kann ich andeutungsweise erkennen, was sich hinter dem Rauchenden Spiegel befindet – die dicke Frau, die vor dem Fernseher sitzt und aus einem weißen Konditoreikarton Kuchen futtert, während ihr Mann bis spät in die Nacht schuftet, schon den dritten Abend in Folge; ich sehe das Schaufenster eines Antiquitätengeschäfts und eine Puppe mit Porzellangesicht unter einer Glasglocke; die Apotheke, in die sie damals ging, um Windeln und Milch für ihre kleine Tochter zu kaufen; das Gesicht ihrer Mutter, grob und streng und nicht weiter überrascht, als sie ihr die furchtbare Nachricht mitteilte.
Seither hat sich vieles für sie verändert. So vieles – und doch ist immer noch diese Leere in ihr, die gefüllt werden möchte –
»Zwölf Trüffel. Nein. Geben Sie mir zwanzig«, sagt sie. Sie weiß, dass Trüffel auch nichts helfen. Aber irgendwie sind diese Trüffel anders, denkt sie. Und die Frau hinter der Theke, mit den langen dunklen Haaren, in die kleine Kristallperlen geflochten sind, und mit den türkisblauen Schuhen, deren Absätze so schön schimmern – Schuhe, in denen man eigentlich abends tanzen geht, in denen man hüpfen und fliegen kann, dafür sind sie gemacht, sie sind für alles gut, nur nicht zum Gehen und Stehen –, diese Frau sieht auch irgendwie anders aus, anders als die übrigen Leute hier in der Gegend, lebendiger, realer –
Auf der Glastheke haben die Trüffel eine Spur dunkles Kakaopulver hinterlassen. Man kann also mühelos das Jaguar-Zeichen malen – die katzenhafte Seite des Schwarzen Tezcatlipoca. Die Frau starrt darauf, wie verzaubert von Farben und Duft, während ich die Pralinenschachtel verpacke und mir dabei viel Zeit lasse.
Dann kommt – wie bestellt – Anouk herein, mit zerzausten Haaren und lachendem Gesicht, weil Rosette gerade etwas Lustiges gemacht hat. Madame blickt auf, und plötzlich erschlaffen ihre Züge.
Merkt sie etwas? Kann es sein, dass die Begabung, die Vianne und Anouk im Überfluss besitzen, auch an der Quelle noch nicht versiegt ist? Anouk strahlt sie an, Madame erwidert das Lächeln, zuerst nur zögernd, aber als sich die Verbindung von Blutmond und Hasenmond mit dem Sog des Jaguars vereinen, wird ihr teigiges Gesicht fast schön vor lauter Sehnsucht.
»Und wer ist das?«, fragt sie.
»Das ist meine kleine Nanou.«
Mehr brauche ich gar nicht zu sagen. Ob Madame in dem Kind etwas sieht, was ihr vertraut erscheint, oder ob Anouk selbst sie fasziniert, mit ihrem Puppengesicht und ihren byzantinischen Haaren – wer soll das entscheiden? Aber Madames Augen leuchten plötzlich auf, und als ich ihr vorschlage, sie solle doch noch bleiben und eine Tasse Schokolade trinken (vielleicht mit einer meinerSpezialtrüffel), nimmt sie die Einladung widerspruchslos an. Sie setzt sich an einen der kleinen Tische und beobachtet Anouk, die zwischen Küche und Laden hin und her pendelt. Sie beobachtet das Mädchen mit einer Intensität, die weit über reinen Hunger hinausgeht; sie verfolgt, wie Anouk Nico begrüßt, der gerade draußen vorbeigeht, und ihn auf eine Tasse Tee hereinruft; wie sie mit Rosette und ihrer
Weitere Kostenlose Bücher