Himmlische Wunder
das erste Mal, dass sie andere Kinder sah. Sie spielte auch zum ersten Mal Verstecken, sie lernte Singspiele und Klatschspiele und Laufspiele und noch viel mehr. Als sie nach Hause kam, wirkte sie sehr müde, aber auch viel glücklicher, als ihre Mutter sie je gesehen hatte.
»Darf ich morgen wieder hinaus ins Freie?«
Schweren Herzens erklärte sich die Mutter einverstanden – solange sie Mantel und Mütze anbehalte –, und wieder war das Schneekind den ganzen Tag draußen im Freien. Sie schloss heimliche Freundschaften und schwor feierliche Schwüre, sie schürfte sich das erste Mal die Knie auf, und auch diesmal kam sie mit blitzenden Augen nach Hause und verkündete, sie wolle auch am nächsten Tag wieder hinaus.
Die Mutter protestierte – das Kind war so erschöpft! –, aber schließlich sagte sie doch wieder Ja. Und am dritten Tag entdeckte das Schneekind die lockenden Freuden des Ungehorsams. Zum ersten Mal in ihrem kurzen Leben brach sie ein Versprechen, zerschlug eine Fensterscheibe, küsste einen Jungen und zog in der Sonne Mantel und Mütze aus.
Die Zeit verging. Als der Abend kam und das Schneekind immer noch nicht zu Hause war, machte sich die Mutter auf die Suche. Sie fand den Mantel, sie fand die Mütze, aber von dem Schneekind war nirgends eine Spur, nur eine stumme Pfütze, wo vorher kein Wasser gewesen war.
Ich mochte dieses Märchen nie. Von allen Geschichten, die meine Mutter erzählte, machte diese mir am meisten Angst. Nicht wegen des Inhalts, sondern weil meine Mutter immer so ein komischesGesicht dabei machte und weil ihre Stimme zitterte und weil sie mich so fest an sich drückte, dass es beinahe wehtat, und weil der Wind so wild heulte, draußen, in der winterlichen Dunkelheit.
Natürlich ahnte ich damals nicht, warum sie solche Angst hatte. Jetzt verstehe ich das. Es heißt, die größte Angst in der Kindheit sei es, von den Eltern im Stich gelassen zu werden. Diese Angst kommt in vielen Kindermärchen vor, Hänsel und Gretel, Schneewittchen, das von der bösen Königin verfolgt wird.
Aber jetzt bin ich diejenige, die sich im Wald verirrt hat. Trotz der Herdwärme in der Küche fröstelt es mich, und ich ziehe meine dicke Strickjacke fester um mich. In letzter Zeit spüre ich oft die Kälte, während Zozie sich immer noch so anziehen kann wie im Sommer, mit ihrem bunt gemusterten Rock und ihren Ballerinaschuhen, die Haare mit einer gelben Schleife zurückgebunden.
»Ich muss mal eine Stunde weg. Ist das okay?«
»Ja, natürlich.«
Wie könnte ich ihr die Bitte abschlagen, wenn sie immer noch kein Geld annimmt?
Und wieder frage ich mich stumm:
Was ist dein Preis?
Was möchtest du ?
Draußen weht immer noch der Dezemberwind. Aber der Wind hat keine Macht über Zozie. Ich sehe, wie sie das Licht vorne im Laden ausmacht; sie summt leise vor sich hin, während sie die Fensterläden schließt, so dass die Schaufensterdeko verschwindet, wo sich die hölzernen Püppchen im Haus um einen Geburtstagstisch versammelt haben, während draußen, unter dem Verandalicht, ein Chor von Schokoladenmäusen, mit kleinen Liedertexten in den Pfoten, lautlos ein Lied singt, im weißen Kristallzuckerschnee.
3
D ONNERSTAG , 20 . D EZEMBER
Thierry war heute wieder hier, aber Zozie hat sich um ihn gekümmert. Ich weiß nicht genau, was sie gemacht hat. Ich schulde ihr so viel, und das stört mich immer mehr. Aber ich habe nicht vergessen, was ich neulich in der Chocolaterie gesehen habe. Genauso wenig wie das unbehagliche Gefühl, als würde ich mich selbst sehen: die Vianne Rocher, die ich früher war, wiedergeboren als Zozie de l’Alba, die meine Methoden anwendet, meine Sätze spricht und mich zum Widerspruch reizt.
Ich habe sie heute den ganzen Tag heimlich beobachtet. Gestern auch schon. Und vorgestern. Rosette spielte friedlich. Die Geruchsmischung aus Nelken und Mäusespeck und Zimt und Rum wehte durch die warme Küche, meine Hände waren voller Puderzucker und Kakaopulver, das Kupfer glühte, der Kessel blubberte auf dem Herd. Es war alles so vertraut, so absurd tröstlich, und doch kam ein Teil von mir nicht zur Ruhe. Jedes Mal, wenn die Glocke bimmelte, schaute ich nach vorn in den Laden.
Nico kam vorbei, in Begleitung von Alice. Sie sahen beide wahnsinnig glücklich aus. Nico behauptet übrigens, er habe abgenommen, obwohl er nach Kokosmakronen süchtig ist. Ein oberflächlicher Betrachter kann den Unterschied nicht feststellen, aber Alice sagt auch, dass er fünf Kilo weniger
Weitere Kostenlose Bücher