Himmlische Wunder
es darf nicht kochen. Jetzt rasple ich den Block Kuvertüre in den kleinen Keramiktopf. Fast sofort steigt der Geruch auf, dieser dunkle, erdige Geruch bitterer Schokolade. In dieser Stärke schmilzt sie nur langsam, weil sie kaum Fett enthält, und ich muss Butter und Sahne dazugeben, damit die Mischung die richtige Trüffelkonsistenz bekommt. Aber nun riecht man den Hauch der Geschichte, es duftet nach den Bergen und Wäldern Südamerikas, nach gefällten Bäumen, nach Harz, nach dem Rauch eines Lagerfeuers. Es riecht nach Räucherstäbchen und Patschuli, nach dem schwarzen Gold der Maya und dem roten Gold der Azteken, nach Stein und Staub und nach einem jungen Mädchen mit Blumen in den Haaren und einem Glas Pulque in der Hand.
Es ist absolut berauschend. Während die Schokolade schmilzt, beginnt sie zu glänzen, Dampf steigt auf, der Duft wird intensiver, erblüht mit Zimt und Nelkenpfeffer und Muskat, die dunklen Untertöne von Anis und Espresso, die helleren Noten von Vanille und Ingwer. Jetzt ist sie fast geschmolzen. Eine sanfte Wolke erhebt sich, nun haben wir das wahre Theobroma , die Speise der Götter in flüssiger Form, und in dem Nebel kann ich fast sehen.
Ein junges Mädchen, das mit dem Mond tanzt. Ein Kaninchenfolgt ihr auf den Fersen. Hinter ihr steht eine Frau, das Gesicht im Schatten, so dass sie einen Moment lang in drei Richtungen zu blicken scheint …
Aber schon wird der Dampf zu dicht. Die Schokolade darf nicht wärmer werden als sechsundvierzig Grad. Zu heiß – und sie verfärbt sich und wird streifig. Zu kühl – und sie wird weißlich und stumpf. Nach all den Jahren brauche ich kein Zuckerthermometer mehr, ich merke am Geruch und an der Konsistenz des Dampfs, dass wir uns dem kritischen Punkt nähern. Ich nehme den Kupfertopf von der Flamme und stelle den Keramiktopf in kaltes Wasser, bis die Temperatur entsprechend gesunken ist.
Beim Abkühlen entsteht ein blumiger Duft. Papier poudré, mit Veilchen- und Lavendelaroma. Es riecht nach meiner Großmutter, wenn ich eine gehabt hätte, nach Hochzeitskleidern, sorgfältig auf dem Speicher in einem Karton aufbewahrt, nach Buketts unter Glas. Ja, ich kann das Glas fast sehen, eine runde Glasglocke, unter der eine Puppe steht, eine Puppe mit schwarzen Haaren und einem roten Mantel mit Pelzbesatz, die mich seltsam an jemanden erinnert, den ich kenne.
Eine Frau mit müdem Gesicht betrachtet wehmütig die schwarzhaarige Puppe. Ich glaube, ich habe sie irgendwo schon gesehen. Und hinter ihr steht eine andere Frau, deren Kopf durch das geschwungene Glas halb verdeckt ist. Auch diese Frau kenne ich, scheint mir, aber ihr Gesicht ist durch die Glasglocke verzerrt, sie könnte irgendjemand sein …
Den Topf wieder in das siedende Wasser geben. Bei diesem Durchgang muss die Masse auf eine Temperatur von einunddreißig Grad kommen. Es ist meine letzte Chance, den Bildern einen Sinn abzuringen. Ich merke, wie meine Hände zittern, als ich in die geschmolzene Kuvertüre blicke. Sie riecht nun nach meinen Kindern, nach Rosette mit ihrem Geburtstagskuchen und nach Anouk, die im Laden sitzt, mit sechs, sie redet und lacht und macht Pläne … Wofür?
Für ein Fest. Ein Grand Festival du Chocolat , mit Ostereiern und Schokoladenhennen und dem Papst in weißer Schokolade.
Was für eine kostbare Erinnerung. In dem Jahr haben wir dem Schwarzen Mann die Stirn geboten und gewonnen. Für eine Weile sind wir auf dem Wind geritten.
Aber nein, es ist nicht der richtige Moment für Nostalgie. Vertreibe den Dampf von der dunklen Oberfläche. Versuch’s noch mal.
Wir sind im Le Rocher de Montmartre . Ein Tisch ist gedeckt, alle unsere Freunde sind gekommen. Wieder ein Fest. Ich sehe Roux am Tisch sitzen, er lächelt, er lacht und trägt eine Stechpalmenkrone auf den roten Haaren. Er hat Rosette auf dem Arm und trinkt ein Glas Champagner.
Aber das ist natürlich nur Wunschdenken. Wir sehen oft, was wir sehen wollen. Eine Sekunde lang bin ich fast zu Tränen gerührt.
Noch einmal streiche ich mit der Hand durch den Dampf.
Wieder ein anderes Fest. Mit Feuerwerk und Marschmusik und mit als Skelette verkleideten Menschen. Es ist der Tag der Toten, an dem die Kinder in den Straßen tanzen, es gibt Papierlaternen, auf die Dämonengesichter gemalt sind, und Totenköpfe aus Zucker auf Holzstäbchen und Santa Muerte , die durch die Straßen paradiert, mit ihren drei Gesichtern, die in alle Richtungen blicken.
Aber was hat dieses Fest mit mir zu tun? Wir waren
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