Himmlische Wunder
die Schüssel, warf einen Blick auf Rosettes Plätzchen, stellte den Backofen aus und setzte sich ganz, ganz langsam auf den Küchenstuhl. Da saß sie und schwieg.
Rosette spielte mit den Ausstechformen und stapelte sie jetzt aufeinander. Sie waren aus Plastik, sechs Stück, jede Form eine andere Farbe: eine violette Katze, ein gelber Stern, ein rotes Herz, ein blauer Mond, ein orangefarbener Affe und eine grüne Raute. Ich habe auch immer gern mit diesen Formen gespielt. Als ich noch klein war, habe ich Schokoladenplätzchen gemacht und Lebkuchen, die ich dann mit gelbem und weißem Zuckerguss aus einer Spritztülle verziert habe.
»Maman?«, sagte ich. »Ist dir nicht gut?«
Zuerst sagte sie nichts und schaute mich nur an, ihre Augen so dunkel wie die Ewigkeit. »Hast du es ihm gesagt?«, fragte sie schließlich.
Ich antwortete nicht. Das war auch gar nicht nötig. Sie konnte es in meinen Farben sehen, genauso wie ich es in ihren Farben sah. Ich wollte ihr sagen, dass das in Ordnung ist und sie mich nicht anlügen muss und dass ich inzwischen alles Mögliche weiß und dass ich ihr helfen kann –
»Tja, dann wissen wir wenigstens, warum er verschwunden ist.«
»Meinst du, er ist wirklich weg?«
Maman zuckte nur die Achseln.
»Aber deswegen würde er doch nicht abhauen!«
Jetzt lächelte sie erschöpft und hielt die Puppe vor sich hin, die vom Zeichen des Wechselnden Windes leuchtete.
»Es ist nur eine Puppe, Maman«, sagte ich.
»Nanou, ich habe geglaubt, du vertraust mir.«
Ich konnte wieder ihre Farben sehen, lauter traurige Grautöne und nervöses Gelb, wie alte Zeitungen, die man auf dem Speicheraufbewahrt und eigentlich wegwerfen wollte. Und jetzt konnte ich sehen, was Maman dachte – jedenfalls ein paar Fragmente. Es war so, als würde ich ein Notizbuch mit Gedanken durchblättern. Ich sah ein Bild von mir, wie ich mit sechs neben ihr an einer verchromten Theke sitze und wir beide wie verrückt grinsen, zwischen uns ein großes Glas Schokolade mit Sahne und zwei kleine Löffel. Ein Märchenbuch mit Bildern liegt aufgeschlagen auf einem Stuhl. Ein Bild, das ich gemalt habe, zwei krakelige Figuren, vielleicht Maman und ich, beide mit Lächelmündern, die aussehen wie große Wassermelonenschnitze, und die beiden Figuren stehen unter einem Baum mit lauter Bonbons. Ich, wie ich in Roux’ Boot sitze und angle. Ich, jetzt, wie ich mit Pantoufle renne und auf etwas zulaufe, das ich nie erreiche –
Und etwas – ein Schatten – über uns.
Es machte mir Angst, sie so verängstigt zu sehen. Und ich wollte ihr ja vertrauen, ihr sagen, dass alles in Ordnung ist und dass nichts für immer verloren ist, weil Zozie und ich es zurückholen.
»Was holt ihr zurück?«
»Mach dir keine Sorgen, Maman. Ich weiß, was ich tue. Diesmal gibt es keinen Unfall.«
Ihre Farben loderten, aber ihr Gesicht blieb ruhig. Sie lächelte mir zu und sagte dann ganz langsam und geduldig, als würde sie mit Rosette sprechen: »Hör zu, Nanou. Das ist sehr wichtig. Du musst mir alles sagen.«
Ich zögerte. Ich hatte Zozie versprochen –
»Glaub mir, Anouk – ich muss es wissen.«
Also versuchte ich, ihr Zozies System zu erklären, die Farben, die Namen, die mexikanischen Symbole und den Wechselnden Wind und unsere Unterrichtsstunden in Zozies Zimmer und wie ich Mathilde und Claude geholfen habe und wie wir der Chocolaterie geholfen haben, damit sich das Geschäft endlich lohnt, und Roux und die Püppchen und dass Zozie gesagt hat, so etwas wie Unfälle gibt es gar nicht, es gibt nur normale Leute – und Leute wie uns.
»Du sagst immer, es gibt eigentlich keine richtige Magie«, sagte ich. »Aber Zozie sagt, wir sollen das, was wir haben, auch nutzen.Wir sollen nicht so tun, als wären wir wie alle anderen. Wir sollen uns nicht mehr verstecken müssen –«
»Manchmal ist Verstecken die einzige Möglichkeit.«
»Nein, manchmal kann man sich wehren.«
»Sich wehren?«, sagte sie.
Dann erzählte ich ihr, was ich in der Schule gemacht hatte und wie Zozie mir gesagt hatte, dass man auf dem Wind reiten kann und den Wind für sich nutzen kann und dass wir keine Angst haben sollen. Und dann erzählte ich ihr auch noch von Rosette und mir und wie wir den Wechselnden Wind angerufen haben, damit er Roux zurückholt und wir eine Familie sein können.
Als sie das hörte, zuckte sie zurück, als hätte sie sich verbrannt.
»Und Thierry?«, fragte sie.
Tja, er musste leider gehen. Das sah Maman doch bestimmt auch so.
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