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Himmlische Wunder

Himmlische Wunder

Titel: Himmlische Wunder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joanne Harris
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Kleidergeschmack, Frauen, die ihre Enttäuschungen unter einem Mantel aus akademischer Bildung und gesundem Menschenverstand verbergen. Man könnte sogar sagen, ich habe ihr einen Gefallen getan, und als sie bereit war, besorgte ich ihr, um ein wenig nachzuhelfen, eine Substanz, die so gut wie keine Schmerzen verursacht.
    Danach musste ich verschiedene Dinge regeln – Abschiedsbrief, Identifizierung, Feuerbestattung –, bevor ich Mercedes fallen lassen konnte. Ich sammelte nun alles ein, was von Françoise übrig gebliebenwar – Kontoauszüge, Pass, Geburtsurkunde –, und unternahm sozusagen gemeinsam mit ihr eine jener Auslandsreisen, von denen sie ständig gesprochen hatte, ohne ihre Pläne je in die Tat umzusetzen – während sich zu Hause die Leute vermutlich wunderten, wie eine Frau so spurlos verschwinden konnte und nichts, aber auch gar nichts zurückließ, keine Familie, keine Papiere, nicht einmal ein Grab.
    Nach einer Weile sollte sie als Englischlehrerin am Lycée Rousseau wiederauferstehen. Inzwischen war sie natürlich weitgehend vergessen, begraben unter einem ganzen Wust bürokratischer Vorgänge. In Wahrheit ist so etwas den meisten Menschen völlig egal. Das Leben geht weiter, und zwar in einem solchen Tempo, dass man die Toten schnell vergisst.
    Ich habe am Schluss versucht, bei ihr Verständnis zu wecken. Schierling ist eine ungemein praktische Droge, im Sommer sehr leicht zu beschaffen, und er macht das Opfer so gefügig. Innerhalb von Sekunden setzt die aufsteigende Lähmung ein, und danach ist alles gut, man hat noch jede Menge Zeit, um wichtige Dinge zu besprechen und sich auszutauschen – was in diesem Fall allerdings etwas einseitig ausfiel, weil Françoise nicht imstande war, sich zu äußern.
    Das enttäuschte mich, offen gesagt. Ich hatte mich darauf gefreut, ihre Reaktion zu sehen, und obwohl ich nicht unbedingt mit Zustimmung gerechnet hatte, als ich es ihr sagte, hätte ich mir von einer Frau mit ihren intellektuellen Fähigkeiten doch etwas mehr erhofft.
    Aber ich stieß auf absoluten Unglauben. Und dann dieses starre Gesicht, das schon zu guten Zeiten nicht gerade hübsch war! Sie glotzte mich nur an, und wenn ich dafür anfällig wäre, hätte ich sie garantiert im Traum wiedergesehen und die Erstickungsgeräusche gehört, die sie von sich gab, während sie vergeblich gegen die Wirkung des Tranks ankämpfte, den ja auch Sokrates zu sich genommen hatte.
    Eigentlich eine hübsche Idee, fand ich. Aber bedauerlicherweise sah meine arme Françoise das völlig anders, denn ein paar Minutenvor dem Ende entdeckte sie plötzlich ihre große Liebe zum Leben. Und ich blieb wieder einmal mit einem Gefühl des Bedauerns zurück. Auch dieser Fall war viel zu einfach für mich gewesen. Françoise hatte mich vor keine wirklich reizvolle Aufgabe gestellt. Sie war nur eine Silbermaus an meinem Armband. Leichte Beute für jemanden wie mich.
    Was mich wieder zu Vianne Rocher bringt.
    In Vianne habe ich eine ebenbürtige Gegenspielerin – immerhin ist sie eine Hexe, und noch dazu keine schlechte, trotz ihrer albernen Skrupel und Schuldgefühle. Vielleicht die einzig würdige Kontrahentin, die mir bisher begegnet ist. Und da sitzt sie nun und wartet auf mich, mit diesem stummen Wissen in den Augen, und ich weiß, sie sieht mich endlich in aller Klarheit, sie erkennt meine wahren Farben, und es gibt keinen exquisiteren Augenblick als diese erste wirklich intime Begegnung.
    Ich setze mich ihr gegenüber an den Tisch. Sie sieht aus, als würde sie frieren, eingewickelt in ihren ausgeleierten schwarzen Pullover, die weißen Lippen verkniffen von zu vielen unausgesprochenen Wörtern. Ich lächle sie an, und ihre Farben leuchten auf – seltsam, wie viel Zuneigung ich für sie empfinde, jetzt, da endlich die Messer gezückt sind.
    Draußen tobt der Wind. Ein Killerwind, mit Schnee durchsetzt. Wer heute in einem Ladeneingang schläft, wird sterben. Hunde werden heulen, Türen knallen. Junge Liebespaare werden einander in die Augen blicken und zum ersten Mal stumm den Wert ihrer Schwüre anzweifeln. Die Ewigkeit ist so endlos lang – und hier, am Ende des Jahres, scheint der Tod auf einmal sehr nah.
    Aber ist es nicht genau das, worum es bei diesem Fest der Winterlichter geht? Bei diesen kleinen Trotzgebärden gegen die Finsternis? Sie können es meinetwegen gern Weihnachten nennen, wenn Sie wollen, aber Sie und ich wissen, dass das Fest viel, viel älter ist. Und unter dem Lametta und den

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