Himmlische Wunder
einmal zuschlagen muss, dann wird die Piñata ihre Geheimnisse preisgeben.
Die Mutter ruft wieder. Zu spät. Das Kind ist nicht zu erreichen. Gierig beugt sich die Großmutter vor, sie schmeckt es schon, denkt sie, ein satter Geschmack, wie Blut, wie Schokolade.
Wieder trifft das Steinmesser auf den Deckel. Wieder dieses hohle Geräusch. Der Riss wird breiter …
Sie denkt: Ich hab’s geschafft. Ich bin drin .
Und jetzt ist der Dampf verflogen. Die Schokolade wird gut werden, sie wird schön glänzen und verlockend knacken. Und nun weiß ich auch, wo ich sie schon einmal gesehen habe, diese Kleine mit dem Messer in der Hand.
Ich kenne sie schon mein ganzes Leben, glaube ich. Wir sind jahrelang vor ihr geflohen, meine Mutter und ich, als wir wie Zigeuner von Stadt zu Stadt zogen. Wir sind ihr in den Märchen begegnet, sie ist die böse Hexe mit dem Pfefferkuchenhaus, sie ist der Rattenfänger, sie ist die Winterkönigin. Eine Weile kannten wir sie als Schwarzen Mann, aber die Wohlwollenden haben viele Verkleidungen, und ihre Freundlichkeit verbreitet sich wie ein Lauffeuer, sie geben den Ton an, verkünden die Veränderungen, umwerben uns mit Flötentönen, vertreiben alle unsere Probleme mit wunderschönen roten Schuhen …
Und endlich sehe ich ihr Gesicht. Ihr wirkliches Gesicht, das hinter lebenslangem Zauber verborgen war, veränderlich wie der Mond und hungrig, so unglaublich hungrig. In dem Moment kommt sie zur Tür herein, in ihren Schuhen mit den Bajonettabsätzen, und sie mustert mich mit einem strahlenden Lächeln.
6
F REITAG , 21 . D EZEMBER
Sie erwartete mich schon, als ich nach Hause kam. Ich kann nicht behaupten, dass mich das überraschte. Seit mehreren Tagen warte ich auf eine Reaktion, und ich finde, ehrlich gesagt, es ist höchste Zeit.
Zeit, die Dinge endlich zu klären. Ich habe lange genug die sanfte Hauskatze gespielt. Jetzt werde ich meine ungezähmte Seite zeigen und meiner Gegnerin auf ihrem Terrain gegenübertreten.
Sie war in der Küche, mit einem Schal um die Schultern, mit einer Tasse Schokolade, die längst kalt war. Es war schon nach Mitternacht, draußen regnete es noch, und es roch nach Plätzchen und Bitterschokolade.
»Hallo, Vianne.«
»Hallo, Zozie.«
Sie sieht mich an.
Wieder habe ich es geschafft. Ich bin drin.
Es gibt etwas, was ich bei den gestohlenen Leben sehr bedaure, und zwar, dass so vieles heimlich ablief und meine Gegenspieler nie davon erfuhren und deshalb nicht zu schätzen wussten, wie poetisch sich ihr Sturz gestaltete.
Meine Mutter – nicht gerade die Hellste – war ein, zwei Mal kurz davor, den Vorgang zu durchschauen, aber ich glaube nicht, dass sie je wirklich begriffen hat. Trotz ihrer okkulten Neigungen war sie nicht besonders fantasievoll und fand alberne Rituale wichtiger als alle wirksamen Maßnahmen.
Selbst Françoise Lavery, die, gebildet wie sie war, am Schluss etwas geahnt haben muss, konnte trotzdem nicht erfassen, in welch eleganten Prozess sie involviert war, und sie ahnte nicht, wie erstklassig die neu verpackte Version ihres Lebens aussehen würde.
Sie war immer ein bisschen labil gewesen. Wie meine Mutter, so ein mausgrauer Frauentyp – die ideale Beute für jemanden wie mich. Sie unterrichtete Geschichte, lebte in einer Wohnung nicht weit von der Place de la Sorbonne und fand mich ausgesprochen sympathisch (wie übrigens die meisten Leute), schon gleich bei unserer ersten Begegnung, als wir uns keineswegs zufällig bei einer Vorlesung im Institut Catholique über den Weg liefen.
Sie war dreißig, übergewichtig, mit depressiven Tendenzen, kannte kaum jemanden in Paris; außerdem hatte sie sich gerade von ihrem Freund getrennt und suchte eine Mitbewohnerin.
Es klang perfekt – ich bekam den Zuschlag. Unter dem Namen Mercedes Desmoines wurde ich ihre Beschützerin, ihre Vertraute. Ich hatte wie sie eine Vorliebe für Sylvia Plath. Ich zeigte größtes Verständnis für ihre Wut auf die dummen Männer und interessierte mich brennend für ihre extrem dröge Doktorarbeit über die Rolle der Frau im vorchristlichen Mystizismus. So etwas kann ich schließlich besser als alles andere, und nach und nach erfuhr ich ihre Geheimnisse. Ich verstärkte ihre Melancholie, und als es dann so weit war, übernahm ich ihr Leben.
Es war kein besonders schwieriges Unterfangen. Es gibt eine halbe Million Frauen wie sie, junge Frauen mit Milchgesichtern und langweiligen Haaren, einer sauberen Handschrift und einem schlechten
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