Himmlische Wunder
nie in Lateinamerika, obwohl meine Mutter immer davon geträumt hat. Wir haben es nicht einmal bis Florida geschafft.
Ich strecke die Hand aus, um den Dampf wegzuwischen. Und da sehe ich sie. Ein acht- oder neunjähriges Mädchen mit mausbraunen Haaren. Sie geht Hand in Hand mit ihrer Mutter durch die Menschenmenge. Ich spüre, dass die beiden anders sind als die anderen – etwas an ihrer Haut, ihren Haaren –, und sie betrachten alles mit fassungslosem Staunen: die Tänzer, die Dämonen, die bunten Piñatas an langen spitzen Stöcken und mit Feuerwerkskörpern an den Schwänzen.
Noch einmal fahre ich mit der Hand über die Schokoladenoberfläche. Kleine Dampfwölkchen steigen auf, und jetzt rieche ich Schießpulver, was für ein ekelhafter Geruch, und dann überall Rauch und Feuer und Chaos.
Und schon sehe ich auch das Mädchen wieder, wie es mit einer Gruppe von Kindern in einer kleinen Gasse vor einer dunklen Schaufensterfront spielt. Über dem Eingang hängt eine Piñata , ein gestreiftes, märchenhaftes Tigerwesen, rot und gelb und schwarz. Die anderen rufen: Schlag drauf! Schlag drauf! Sie werfen Stöcke und Steine. Aber das kleine Mädchen hält sich zurück. In dem Laden ist etwas, denkt es. Etwas Interessanteres.
Wer ist dieses Mädchen? Ich habe keine Ahnung. Aber ich möchte ihr in den Laden folgen. In der Tür hängt ein Vorhang aus langen, bunten Plastikstreifen. Die Kleine streckt die Hand aus – ein schmales Silberarmband umschließt ihr Handgelenk –, blickt sich nach den anderen Kindern um, die immer noch versuchen, die Tiger- Piñata zu öffnen, dann geht sie zwischen den Plastikstreifen hindurch in den Laden.
»Gefällt dir meine Piñata nicht?«
Die Stimme kommt aus der Ecke. Sie gehört einer alten Frau, einer Großmutter, nein, einer Urgroßmutter, sie sieht aus wie mindestens hundert. Oder wie tausend, in den Augen des kleinen Mädchens. Eine Hexe aus dem Märchenbuch, überall Falten, müde Augen und krallenartige Finger. In der einen Hand hält sie einen Becher, und von diesem Becher weht ein eigenartiger Geruch zu dem Mädchen hinüber, etwas Berauschendes, Schwindelerregendes.
Auf den Regalen um sie herum stehen lauter Flaschen, Gläser, Phiolen und Töpfe; getrocknete Wurzeln hängen von der Decke herunter und verbreiten einen dumpfen Kellergeruch, und überall brennen Kerzen und lassen die Schatten winken und tanzen.
Vom obersten Regal grinst ein Totenkopf.
Zuerst denkt das Mädchen, der Totenkopf sei aus Zucker, wie die Totenköpfe bei dem Umzug, aber auf einmal ist sie sich nicht mehr so sicher. Und vor ihr auf der Theke steht ein schwarzer Gegenstand, etwa einen Meter lang, so groß wie ein Kindersarg.
Es ist eine Kiste aus Pappmaschee, angemalt mit schwarzer Farbe. Nur oben auf dem Deckel erkennt man ein rotes Zeichen: Es sieht aus wie ein Kreuz, aber nicht ganz.
Wahrscheinlich auch eine Art Piñata , denkt die Kleine.
Die Urgroßmutter lächelt und reicht ihr ein Messer. Ein sehr altes Messer, ziemlich stumpf. Ist es aus Stein? Neugierig betrachtet die Kleine das Messer, dann schaut sie wieder zu der alten Frau und ihrer eigenartigen Piñata .
»Öffne sie«, fordert die Urgroßmutter sie auf. »Öffne sie. Sie ist für dich. Nur für dich.«
Der Schokoladengeruch wird immer stärker. Jetzt ist die Temperatur genau richtig: die Schwelle von einunddreißig Grad, welche die Kuvertüre nicht übersteigen darf. Der Dampf verdichtet sich, das Bild wird unscharf, schnell nehme ich die Schokolade von der Flamme und gehe in Gedanken noch einmal durch, was ich gesehen habe.
Öffne sie.
Die Kiste riecht muffig und alt. Aber von innen hört sie etwas, keine Stimme, sondern lockende Geräusche, die ihr etwas zu versprechen scheinen.
Sie ist nur für dich.
Was ist es?
Der erste Schlag. Ein dumpfes Echo, als würde man gegen eine geheime Tür treten. Und gleichzeitig klingt es wie ein leerer Sarg, der viel größer ist als diese kleine schwarze Kiste.
Der zweite Schlag. Die Kiste bricht auf, es entsteht der Länge nach ein Riss. Das Mädchen lächelt, vor sich sieht sie schon die in Folie gewickelten Süßigkeiten, die Spielsachen, die Pralinen.
Gleich hast du es geschafft. Noch ein Schlag!
Und da erscheint endlich die Mutter des kleinen Mädchens. Sie teilt den Plastikvorhang und schaut herein. Erschrocken reißt sie die Augen auf, ruft einen Namen. Ihre Stimme ist schrill. Aber das Mädchen blickt sich nicht um. Sie konzentriert sich ganz darauf, dass sie nur noch
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