Himmlische Wunder
Weihnachtsliedern, unter den guten Wünschen und den Geschenken liegt eine dunklere, tiefer greifende Wahrheit.
Es ist eine Zeit existenzieller Verluste, eine Zeit, in der die Unschuldigen geopfert werden, eine Zeit der Angst, der Dunkelheit, der Unfruchtbarkeit und des Todes. Die Azteken wussten genauso wie die Maya, dass ihre Götter weit davon entfernt waren, die Welt retten zu wollen, sie wussten, dass ihr Ziel im Gegenteil die Zerstörung war und nur das Opferblut sie vorübergehend beschwichtigen konnte …
Schweigend saßen wir da, wie zwei alte Freundinnen. Ich fingerte an den Glücksbringern an meinem Armband herum, sie starrte in ihre Tasse. Endlich schaute sie mich an.
»Was tust du eigentlich hier, Zozie?«
Nicht besonders originell – aber immerhin ein Anfang.
Ich lächelte. »Ich bin eine Sammlerin.«
»So nennst du das?«
»Es gibt keine bessere Bezeichnung dafür.«
»Und was sammelst du?«
»Zuerst sammle ich ein, was geschuldet wird. Ich sammle ein, was man versprochen hat.«
»Was schulde ich dir?«
»Lass mal überlegen.« Wieder lächelte ich. »Da wären verschiedene Dienstleistungen, Zauberformeln, Tricks, Schutzmaßnahmen. Stroh wurde in Gold verwandelt, Unheil wurde abgewandt, die Ratten mit der Flöte aus Hameln weggelockt. Alles in allem habe ich dir dein Leben zurückgegeben.« Ich merkte zwar, dass sie protestieren wollte, redete aber unbeirrt weiter. »Ich glaube, wir hatten uns darauf geeinigt, dass du mich angemessen bezahlen würdest.«
»Angemessen?«, wiederholte sie. »Ich weiß nicht, was du damit meinst.«
Natürlich verstand sie mich ganz genau. Es ist ein uralter Topos, und sie kennt ihn gut. Der Preis für einen Herzenswunsch ist dein Herz. Ein Leben für ein Leben. Eine Welt im Gleichgewicht. Wenn du ein Gummiband stark genug dehnst, schnappt es zurück in dein Gesicht.
Nenne es Karma, Physik, Chaostheorie, aber ohne diese Balance kippen die Pole, öffnet sich die Erde; die Vögel fallen vomHimmel, die Meere verwandeln sich in Blut, und ehe man sich’s versieht, geht die Welt unter.
Ich hätte jedes Recht, ihr das Leben zu nehmen. Aber heute will ich großzügig sein. Vianne Rocher hat zwei Leben – ich brauche nur eines. Allerdings sind Leben austauschbar; in der heutigen Welt können Identitäten hin und her geschoben werden wie Spielkarten, man kann sie mischen, noch einmal mischen und neu austeilen. Das ist alles, was ich will. Ich will deine Karten. Und du bist mir etwas schuldig. Das hast du selbst gesagt.
»Und wie heißt du?«, fragte Vianne Rocher.
Du willst meinen wirklichen Namen wissen?
Oh, ihr Götter, es ist schon so lange her, dass ich ihn fast vergessen habe. Was bedeutet schon ein Name? Trag ihn wie einen Mantel. Dreh ihn um, verbrenne ihn, wirf ihn weg und stiehl dir einen neuen. Der Name ist nicht wichtig. Nur die Schulden zählen. Und die treibe ich ein. Hier und jetzt.
Nur noch ein kleines Hindernis steht im Weg. Es heißt Françoise Lavery. Offenbar ist mir bei meinen Kalkulationen ein Fehler unterlaufen, ich muss beim großen Aufräumen etwas übersehen haben, denn ihr Geist lässt mir immer noch keine Ruhe. Sie wird jede Woche in der Zeitung erwähnt – nicht auf der Titelseite, zum Glück, aber trotzdem ist mir die Sache inzwischen extrem lästig, und diese Woche wurde zum ersten Mal darüber spekuliert, ob es sich um ein Kapitalverbrechen handeln könnte und nicht nur um einfachen Betrug. An Litfasssäulen und Laternenpfählen überall in der Stadt hängen Plakate mit ihrem Gesicht. Klar, ich sehe mittlerweile völlig anders aus. Aber eine Kombination aus diesen Plakaten und den Bildern der Überwachungskameras in der Bank könnte die Fahnder gefährlich nah zu mir führen, und dann braucht es nur noch einen dummen Zufall, und alle meine wohldurchdachten Pläne sind futsch.
Ich muss verschwinden – und zwar bald. Die beste Art, dies zu tun, wäre (und hier kommst du ins Spiel, Vianne), Paris für immer zu verlassen.
Aber genau da liegt das Problem. Weißt du, Vianne, mir gefälltes hier. Ich hätte nie gedacht, dass ich aus einer simplen Chocolaterie so viel Vergnügen – und so viel Profit – ziehen könnte. Mir gefällt es, was wir aus diesem Laden gemacht haben, und ich sehe sein Potenzial sehr viel deutlicher als du.
Du hast den Laden als Versteck betrachtet. Ich sehe ihn als das Auge des Sturms. Von hier aus können wir der Hurakan sein – wir können jede Menge Unheil anrichten, Leben formen, Macht ausüben
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