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Himmlische Wunder

Himmlische Wunder

Titel: Himmlische Wunder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joanne Harris
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vorstelle, wie sich das auf Anouk und auch auf meine Kunden auswirken würde, dann sehe ich ein, dass es völlig unmöglich ist.
    Und was das Fest betrifft – tja, mir ist schon länger klar, dass dieses Fest in den letzten Wochen eine Bedeutung angenommen hat, die viel umfassender ist, als irgendjemand vorher gedacht hätte. Für Anouk ist es ein Versuch, uns selbst zu feiern, es ist ein Ausdruck der Hoffnung (und vielleicht haben wir beide ja immer noch dieselbe Traumvorstellung, nämlich dass Roux zurückkommt und alles wie durch ein Wunder wieder von vorn beginnen kann).
    Und für unsere Kunden – nein, unsere Freunde?
    So viele haben in den letzten Tagen etwas beigetragen, haben Essen oder Wein gebracht oder Schmuck für das Adventshaus. Sogar der Weihnachtsbaum wurde von dem Blumenladen spendiert, in dem die kleine Alice arbeitet. Madame Luzeron hat Champagner gestiftet, die Gläser und das Besteck stammen von Nicos Restaurant, das Biofleisch von Jean-Loup und Paupaul, bei denen die Bezahlung vermutlich so aussah, dass sie die Frau des Metzgers um den Finger gewickelt und ein Porträt von ihr gemalt haben.
    Sogar Laurent hat etwas beigesteuert (vor allem Zuckerstücke, muss ich zugeben). Ach, es ist so schön, wieder Teil einer Gemeinschaft zu sein, sich zugehörig zu fühlen und bei etwas mitzumachen, das größer ist als die kleinen Feuerstellen, die wir für uns selbst bauen. Ich hatte immer gedacht, Montmartre ist ein kaltes Viertel und die Menschen dort sind abweisend und hochnäsig mit ihrem Vieux Paris -Snobismus und ihrem Misstrauen gegenüber Fremden. Aber jetzt sehe ich, dass unter dem Kopfsteinpflaster ein Herz schlägt. So viel hat Zozie mir immerhin gezeigt. Zozie, die meine Rolle mindestens so gut spielt wie ich in meinen besten Zeiten.
    Es gibt noch eine Geschichte, die meine Mutter gern erzählte, und wie in all ihren Geschichten ging es auch in dieser eigentlich um sie – das ist mir erst relativ spät aufgefallen, als die Zweifel, die ich in den endlosen Monaten vor ihrem Tod schon gehegt hatte, so schlimm wurden, dass ich sie nicht mehr ignorieren konnte und ich mich auf die Suche nach Sylviane Caillou machte.
    Was ich herausfand, bestätigte alles, was meine Mutter im Delirium ihrer letzten Tage gesagt hatte. Du suchst dir deine Familie selbst aus , sagte sie damals immer wieder – und sie hatte mich ausgesucht, achtzehn Monate alt und irgendwie ihr Kind, wie ein Päckchen, das an der falschen Adresse abgeliefert worden war und das sie mit Fug und Recht für sich beansprucht hatte.
    Sie hätte dir nicht genug Zuwendung geschenkt , sagte sie. Sie war nicht achtsam genug. Sie hat dich gehen lassen .
    Aber das schlechte Gewissen war ihr über die Kontinente hinweg gefolgt, Schuldgefühle, die sich schließlich in eine furchtbare Angst verwandelten. Das war der eigentliche Schwachpunkt meiner Mutter – die Angst –, und diese Angst trieb sie ihr ganzes Leben lang um. Angst, dass jemand mich wegholen könnte. Angst, dass ich eines Tages die Wahrheit erfahren könnte. Angst, dass sie sich geirrt hatte, damals, vor vielen Jahren, dass sie eine Fremde um ihr Leben betrogen hatte und am Ende dafür bezahlen musste.
    Hier ist die Geschichte:
    Eine Witwe hatte eine Tochter, die sie über alles liebte. Die beidenwohnten in einer Hütte im Wald, und obwohl sie arm waren, lebten sie so glücklich und zufrieden wie zwei Menschen nur sein können.
    Sie waren so glücklich, dass die Herzkönigin, die ganz in der Nähe wohnte, von ihnen hörte und sehr neidisch wurde. Die Herzkönigin wollte das Herz der Tochter gewinnen, denn obwohl sie tausend Liebhaber und mehr als hunderttausend Sklaven hatte, wollte sie immer mehr, und sie wusste, dass sie niemals Ruhe finden konnte, solange sie wusste, dass es auch nur ein einziges Herz gab, das jemand anderem gehörte und nicht ihr.
    Und so kam es, dass die Herzkönigin heimlich zur Hütte der Witwe schlich. Sie versteckte sich hinter den Bäumen und beobachtete die Tochter, die ganz allein spielte. Die Hütte war nämlich sehr weit weg vom nächsten Dorf, und das Mädchen hatte keine Spielgefährten.
    Die Königin, die gar keine Königin war, sondern eine mächtige Hexe, verwandelte sich in ein winziges schwarzes Kätzchen und trat mit hoch erhobenem Schwanz zwischen den Bäumen hervor.
    Den ganzen Tag spielte das Kind mit der Katze, die herumtollte und hinter Wollfäden herjagte und auf Bäume kletterte und immer gleich angelaufen kam, wenn das Mädchen

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