Himmlische Wunder
jemand anderes ist.
Als ich heute Morgen ins Klassenzimmer kam, spielten die anderen mit einem Tennisball. Suze warf ihn zu Chantal, die warf ihn zu Lucie, dann weiter zu Sandrine und quer hinüber zu Sophie. Niemand sagte ein Wort. Sie spielten einfach immer weiter, aber keine warf ihn zu mir, und als ich Hierher! rief, schienen sie mich gar nicht zu hören. Es war so, als hätte das Spiel plötzlich ganz neue Regeln. Ohne dass jemand es vorher ankündigen musste, ging es jetzt darum, den Ball von mir fernzuhalten, als würden sie rufen Annie ist Es !, und als wollten sie mich zwingen hochzuhüpfen, indem sie den Ball über mich weg warfen.
Ich weiß, es ist blöd. Schließlich ist es nur ein Spiel. Aber so geht das in der Schule jeden Tag. In einer Klasse mit dreiundzwanzig Schülern bin ich immer diejenige, die übrig bleibt, die allein sitzen muss, die den Computer mit zwei anderen Schülern teilenmuss (meistens Chantal und Suze) statt mit einem, die in der Pause isoliert herumsteht oder allein in der Bibliothek oder auf einer Bank sitzt, während die anderen in Grüppchen herumschlendern, lachen, reden und Spiele spielen. Ich hätte nichts dagegen, wenn mal jemand anderes Es wäre. Aber das passiert nie. Immer muss ich Es sein.
Dabei bin ich nicht schüchtern. Ich mag Menschen. Ich komme gut mit ihnen aus. Ich rede gern, ich spiele gern Fangen auf dem Schulhof; ich bin nicht wie Claude, der zu scheu ist, um den Mund aufzumachen, und der stottert, wenn ein Lehrer ihm eine Frage stellt. Ich bin weder so empfindlich wie Suze noch so arrogant wie Chantal. Ich bin immer da, um zuzuhören, wenn jemand sich aufregt – wenn Suze sich mit Lucie oder Danielle streitet, dann kommt sie zuerst zu mir gelaufen, nicht zu Chantal –, aber immer, wenn ich mir einbilde, dass alles gut wird, verschwindet sie wieder und lässt sich etwas Neues einfallen, macht zum Beispiel in der Umkleidekabine mit ihrem Handy Fotos von mir und zeigt sie dann überall herum. Wenn ich dann sage: Suze, bitte, tu das nicht , schaut sie mich bitterböse an und behauptet, es ist doch nur ein Witz, und das heißt, ich bin verpflichtet zu lachen, auch wenn ich keine Lust dazu habe, sonst gelte ich als humorlos und als Spielverderberin. Aber für mich ist es nicht komisch. Wie das Spiel mit dem Tennisball – es macht nur Spaß, wenn man nicht ausgeschlossen wird.
Darüber habe ich nachgedacht, als ich wieder im Bus saß. Chantal und Suze kicherten auf der Bank ganz hinten. Ich drehte mich nicht zu ihnen um, sondern tat so, als würde ich mein Buch lesen, obwohl der Bus hoppelte und die Seiten vor meinen Augen verschwammen. Meine Augen waren tatsächlich feucht – deshalb schaute ich dann einfach aus dem Fenster, obwohl es regnete. Es war schon fast dunkel, und alles wirkte sehr parisgrau, als wir gleich nach der Metrostation bei der Rue Caulaincourt an meine Haltestelle kamen.
Vielleicht nehme ich von jetzt an die Metro. Die Metrostation ist nicht so nah bei der Schule, aber ich mag sie lieber als den Bus: Ich mag den süßlichen Geruch der Rolltreppen, das Brausen inder Luft, wenn die Züge einfahren, ich mag die Menschen, das Gewühle. In der Metro sieht man seltsame Gestalten. Menschen mit verschiedenen Hautfarben, Touristen, Musliminnen mit Schleier, afrikanische Händler, deren Taschen vollgestopft sind mit gefälschten Uhren, Ebenholzschnitzereien, Muschelketten und Perlen. Da sind Männer, die sich wie Frauen kleiden, und Frauen, die sich wie Filmstars anziehen. Und Leute, die aus braunen Papiertüten komische Sachen essen, Leute mit Punkfrisuren, mit Tatoos und mit Ringen in den Augenbrauen. Und Bettler und Musiker und Taschendiebe und Betrunkene.
Maman will lieber, dass ich den Bus nehme.
Klar. Das passt.
Suzanne kicherte, und ich wusste, dass sie wieder über mich geredet hatten. Ich stand auf, ohne sie eines Blickes zu würdigen, und ging in den vorderen Teil des Busses.
Und da sah ich Zozie im Gang stehen. Heute trug sie keine Bonbonschuhe, sondern violette Plateaustiefel mit Schnallen bis zum Knie. Dazu ein kurzes schwarzes Kleid über einem knallgrünen Rollkragenpullover. Ihre Haare hatten grell pinkfarbene Strähnchen, und überhaupt sah sie supertoll aus.
Ich konnte nicht anders, ich musste es ihr sagen.
Eigentlich dachte ich, sie hätte mich längst vergessen, aber sie erinnerte sich an mich. »Annie! Du hier!« Sie gab mir einen Kuss. »Das ist meine Haltestelle. Steigst du auch aus?«
Ich drehte mich um und sah, dass
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