Himmlische Wunder
obwohl auf der Einladung halb acht steht und die Kirchenuhr gerade erst sieben Mal geschlagen hat. »Siehst du draußen schon jemanden?«
Der Schnee fällt so dicht, dass ich die Straßenlaterne am anderen Ende des Platzes kaum sehen kann, aber Anouk presst dauernd die Nase so fest ans Fenster, dass auf der Scheibe ihr geisterhafter Abdruck zurückbleibt.
»Zozie!«, ruft sie. »Bist du fertig?«
Von Zozie, die seit zwei Stunden oben in ihrem Zimmer ist, kommt eine gedämpfte Antwort.
»Kann ich raufkommen?«, ruft Anouk.
»Noch nicht. Ich hab’s dir doch gesagt – es ist eine Überraschung.«
Irgendwie hat Anouk heute Abend etwas Entrücktes. Ihre Aura ist zu einem Viertel Freude und zu drei Viertel Delirium. Sie sieht aus, als wäre sie gerade mal neun Jahre alt– und gleich darauf wirkt sie fast erwachsen, unglaublich hübsch in ihrem roten Umhang, die Haare wie eine Sturmwolke um ihr Gesicht.
»Beruhige dich«, sage ich ihr. »Sonst bist du nachher ganz erschöpft.«
Sie fällt mir spontan um den Hals, genau wie früher, als sie noch klein war, aber bevor ich ihre Umarmung erwidern kann, ist sie schon wieder weg, tanzt unruhig von einer Schüssel zur nächsten, von Glas zu Glas, arrangiert die Dekoration ein bisschen anders, die Stechpalmenzweige, die Efeuranken, die Kerzen, die mit knallrotem Band umwickelten Servietten, die bunten Kissen auf den Stühlen, die Kristallschüssel aus dem Heilsarmeeladen mit dem granatroten Winterpunsch, der mit Muskat und Zimt, mit Zitrone und Cognac zubereitet ist und in dem eine mit Nelken gespickte Orange schwimmt.
Rosette hingegen ist ungewöhnlich ruhig. In ihrem braunen Affenkostüm sitzt sie da und verfolgt alles mit großen Augen. Am meisten fasziniert sie das Adventshaus, weil sie da jetzt ihre eigene Krippenszene hat, mit rieselndem Schnee, umglänzt von einem hellen Heiligenschein und begleitet von einer Gruppe Affen – Rosette besteht darauf, dass der Affe ein Weihnachtskrippentier ist, während man ja eigentlich Ochs und Esel erwarten würde.
»Meinst du, er kommt?«
Natürlich redet Anouk von Roux. Sie hat schon so oft nach ihm gefragt, und mir tut es richtig weh, wenn ich mir ausmale, wie enttäuscht sie sein wird, wenn er nicht auftaucht. Warum sollte er kommen? Aus welchem Grund könnte er sich überhaupt noch in Paris aufhalten? Aber Anouk scheint fest davon überzeugt zu sein, dass er hier ist. Ob sie ihn gesehen hat? Bei dem Gedanken wird mir ganz schwindelig, als hätte ich mich irgendwie bei Anouk angesteckt. Sie denkt ja, dass Schnee am Julfest kein zufälliges Wetterphänomen ist, sondern ein magisches Ereignis, das die Vergangenheit auslöschen kann.
»Möchtest du, dass er kommt?«, fragt sie mich.
Ich denke an sein Gesicht, an den Geruch von Patschuli und Maschinenöl, an die Art, wie er den Kopf neigt, wenn er an etwas arbeitet, ich denke an sein Rattentattoo, an sein bedächtiges Lächeln. Ach, so lange schon sehne ich mich nach ihm. Doch ichwehre mich auch gegen ihn, gegen seine Zurückhaltung, seine Ablehnung aller Konventionen, gegen seine hartnäckige Weigerung, sich anzupassen.
Und ich denke an all die Jahre der Flucht, seit wir von Lansquenet nach Les Laveuses rannten und dann weiter nach Paris und zum Boulevard de la Chapelle mit der Neonreklame und der Moschee in der Nähe, bis zur Place des Faux-Monnayeurs und der Chocolaterie , und an jeder Station haben wir vergeblich versucht, uns einzufügen, uns zu verändern und normal zu sein.
Und ich denke an den langen Weg, an die Hotelzimmer und die Pensionen, an die Dörfer und Städte, an diese Zeit voller Sehnsucht und Angst, und ich frage mich:
Wovor bin ich eigentlich weggerannt? Vor dem Schwarzen Mann? Vor den Wohlwollenden? Vor meiner Mutter? Vor mir selbst?
»Ja, Nou. Ich möchte, dass er kommt.«
Was für eine Erleichterung, das endlich auszusprechen! Es zuzugeben, aller Vernunft zum Trotz. Ich habe mich so lange bemüht, bei Thierry, wenn schon keine Liebe, dann doch wenigstens eine Form der Zufriedenheit zu finden, aber jetzt kann ich mir eingestehen, dass manche Dinge einfach nicht rational zu erklären sind, dass Liebe keine Frage des Willens ist und dass man manchmal dem Wind nicht entrinnen kann.
Natürlich hat er nicht geglaubt, dass ich mich je irgendwo niederlassen würde. Er sagte immer, ich würde mir etwas vormachen; er erwartete, in seiner stillen Arroganz, dass ich mich eines Tages geschlagen geben würde. Ich möchte, dass er kommt. Aber trotzdem werde
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