Himmlische Wunder
Zeit, als wir euch so dringend gebraucht haben«, fährt sie fort und lächelt wieder. Vielleicht spürt sie, wie die Zusatzstoffe, die ich dem Punsch beigemischt habe, ungehindert durch ihre Adern rauschen, wodurch sie verblüffend redselig und unbedacht wird, ja, fast tollkühn, wie eine sehr viel jüngere Vianne, aus einem anderen, längst vergessenen Leben.
»Ich hatte keine besonders stabile Kindheit. Eigentlich haben wir nie irgendwo richtig gelebt. Ich habe mich nirgends akzeptiert gefühlt, sondern immer wie eine Außenseiterin. Aber jetzt habe ich es geschafft, drei Jahre hier zu wohnen, und das habe ich alles euch zu verdanken.«
Gähn, gähn. Tolle Rede.
Ich schenke mir ein Glas Punsch ein und merke, dass Anouk mich anschaut. Sie scheint immer noch nervös zu sein. Vielleicht,weil Jean-Loup nicht da ist? Es geht ihm bestimmt gar nicht gut, dem armen Jungen. Sie glauben, dass er irgendetwas Falsches gegessen hat. Und bei seinem empfindlichen Herzen kann so was gefährlich sein. Eine Erkältung, ein Schüttelfrost, dazu ein Zauberspruch –
Hat sie vielleicht aus irgendeinem Grund ein schlechtes Gewissen?
Bitte, Anouk. Schieb solche Gedanken am besten weit weg. Warum solltest du dich verantwortlich fühlen? Du registrierst doch sowieso die kleinste negative Schwingung. Aber ich kann deine Farben sehen, und ich habe beobachtet, wie du meine kleine Krippenszene betrachtet hast: der magische Kreis aus drei Figuren, unter dem Lichtschein der elektrischen Sterne.
Apropos – einer fehlt noch. Er ist spät dran, was ja nicht anders zu erwarten war, aber er nähert sich unaufhaltsam, er schleicht durch die engen Gassen der Butte, wie ein schlauer Fuchs zum Hennenhaus. Sein Platz am Ende des Tischs ist noch gedeckt, Teller, Gläser, alles unberührt.
Vianne denkt, sie hat sich vielleicht getäuscht. Anouk selbst befürchtet, dass ihre ganzen Planungen und Beschwörungen vergeblich waren, dass sogar der Schnee nichts ändert und nichts mehr übrig bleibt, was sie hier halten könnte.
Aber noch ist Zeit. Die Mahlzeit geht ihrem Ende entgegen, mit Rotweinen aus dem Département du Gers, mit P’tit’s cendrés , in Eichenholzasche gerollt, mit frischen, unpasteurisierten Käsesorten, mit altem, gereiftem Käse, mit altem Buzet und Quittenmarmelade und Walnüssen, grünen Mandeln und Honig.
Und nun bringt Vianne die dreizehn Desserts und die Bûche de Noël , mächtig wie der Arm eines Boxers und mit einer fingerdicken Schokoladenschicht, und alle, die dachten, sie seien endgültig satt, finden noch ein winziges Eckchen in ihrem Magen, um ein Stück zu essen, sogar Alice (beziehungsweise zwei oder drei Stücke, in Nicos Fall), und weil der Punsch aus ist, öffnet Vianne eine Flasche Champagner, und wir sprechen einen Toast aus.
Aux absents –
8
M ONTAG , 24 . D EZEMBER
Heiligabend, 22 Uhr 30
Rosette ist schon ganz schläfrig. Während des ganzen Menüs hat sie sich richtig gut benommen, sie hat zwar mit den Fingern gegessen, aber ziemlich sauber, nicht so sabberig wie sonst, und nebenher hat sie sich (na ja, in Zeichensprache) mit Alice unterhalten, die neben ihrem kleinen Stuhl sitzt.
Sie liebt Alices Feenflügel, was sehr praktisch ist, weil Alice ihr auch ein Flügelpaar mitgebracht hat, das als Geschenk verpackt unter dem Weihnachtsbaum liegt. Rosette ist zu klein, um bis Mitternacht zu warten – eigentlich müsste sie längst im Bett sein. Deshalb haben wir gedacht, sie kann ihre Geschenke jetzt schon aufmachen. Aber nach den Feenflügeln hat sie aufgehört auszupacken. Die Flügel sind lila und silbern und ziemlich cool – ich hoffe ja, dass Alice mir auch welche schenkt, was gar nicht so unwahrscheinlich ist, weil das Päckchen, das sie mir mitgebracht hat, eine ganz ähnliche Form hat. Rosette ist jetzt ein fliegender Affe, und das gefällt ihr supergut, sie krabbelt durch die Gegend, in ihrem Affenkostüm mit den violetten Flügeln, und sie lacht Nico von unter dem Tisch zu, einen Schokoladenkeks in der Hand.
Aber jetzt ist es spät, und ich bin müde. Wo ist Roux? Warum ist er nicht da? Ich kann an nichts anderes mehr denken, nicht ans Essen, nicht mal an die Geschenke. Ich bin total zappelig. Mein Herz kommt mir vor wie ein aufgezogener Kreisel, der durchdreht und völlig außer Kontrolle gerät. Ich mache die Augen zu, und ich rieche Kaffee und die würzige Schokolade, die Maman trinkt, und ich höre das Klappern des Geschirrs, das jetzt abgeräumt wird.
Er kommt noch, denke ich.
Weitere Kostenlose Bücher