Himmlische Wunder
Er muss kommen.
Aber es ist schon so spät, und er ist immer noch nicht da. Habe ich alles richtig gemacht? Es war doch alles okay, oder? Die Kerzen, der Zucker, der Kreis, das Blut? Das Gold und der Weihrauch? Der Schnee?
Warum ist er noch nicht hier?
Ich will nicht weinen. Nicht an Heiligabend! Aber es hätte nicht so kommen dürfen, wie es jetzt ist. Ist das der Preis, den man bezahlen muss, wie Zozie immer sagt? Was ist die Gegenleistung dafür, dass man Thierry loswird?
Dann höre ich das Windspiel, und ich schlage die Augen wieder auf. Jemand steht in der Tür. Einen Moment lang sehe ich ihn ganz deutlich, in Schwarz, die roten Haare offen –
Aber als ich genauer hinsehe, merke ich, es ist nicht Roux. In der Tür steht Jean-Loup, und die rothaarige Frau neben ihm muss seine Mutter sein. Sie wirkt verlegen und gleichzeitig irgendwie sauer, aber Jean-Loup geht es offenbar blendend, er ist vielleicht ein bisschen blass, aber das ist er ja immer.
Ich springe auf. »Du hast es doch noch geschafft! Hurra! Geht’s dir wieder gut?«
»Es ging mir noch nie besser«, sagt er und grinst. »Es wäre doch total lasch, wenn ich dein Fest verpasst hätte. Nachdem du so viel Zeit und Mühe investiert hast!«
Jean-Loups Mutter versucht zu lächeln. »Ich möchte nicht stören«, sagt sie. »Aber Jean-Loup wollte unbedingt –«
»Sie sind herzlich willkommen«, sage ich.
Und während Maman und ich schnell noch zwei Stühle aus der Küche holen, angelt Jean-Loup irgendetwas aus der Tasche. Es sieht aus wie ein Geschenk, in Goldpapier gewickelt, aber es ist winzig klein, höchstens so groß wie eine Praline.
Dieses Päckchen überreicht er Zozie. »Ich glaube, das ist doch nicht eine meiner Lieblingspralinen.«
Sie steht mit dem Rücken zu mir, das heißt, ich kann weder ihr Gesicht noch den Inhalt des Goldpapiers sehen. Aber offenbar hat Jean-Loup sich dazu durchgerungen, Zozie noch eine Chance zugeben, und ich bin dermaßen erleichtert, dass mir fast die Tränen kommen. Es läuft gut. Jetzt muss noch Roux kommen, und Zozie muss beschließen, bei uns zu bleiben.
Dann dreht sie sich um, und ich sehe ihr Gesicht. Eine Sekunde lang sieht sie überhaupt nicht aus wie Zozie. Bestimmt ist es eine optische Täuschung, aber irgendwie sieht sie so wütend aus – wütend? Nein, sie rast regelrecht vor Zorn – ihre Augen sind winzige Schlitze, ihr Mund scheint nur noch aus Zähnen zu bestehen, und mit der Hand umschließt sie das halb geöffnete Päckchen so fest, dass die Schokolade herausquillt wie Blut.
Na ja, wie gesagt, es ist schon spät. Meine Augen können gar nicht mehr richtig gucken. Denn sofort ist sie wieder wie sonst, sie lächelt strahlend und sieht einfach toll aus in dem roten Kleid und den roten Schuhen, und ich will gerade Jean-Loup fragen, was er trinken möchte, als das Windspiel wieder bimmelt und jemand hereinkommt, eine große Gestalt in einem roten Mantel mit einer Kapuze, die mit weißem Pelz besetzt ist, und dazu ein dicker falscher weißer Bart –
»Roux!«, schreie ich und renne los.
Roux zieht den Bart weg, und man kann sehen, wie er grinst.
Rosette ist auch sofort bei ihm, er hebt sie hoch und wirft sie in die Luft. »Ein Affe!«, ruft er. »Mein absolutes Lieblingstier. Und noch besser, ein fliegender Affe!«
»Ich habe schon gedacht, du kommst nicht!«, sage ich und falle ihm um den Hals.
»Na, jetzt bin ich ja hier.«
Alle verstummen. Da steht er. Rosette klammert sich an seinen Arm. Es sind so viele Menschen im Raum, aber sie hätten genauso gut nicht da sein können. Roux wirkt ganz entspannt, aber an der Art, wie er Maman anschaut, merke ich –
Ich mustere sie durch den Rauchenden Spiegel. Sie wirkt cool, aber ihre Farben strahlen. Sie macht einen Schritt auf ihn zu.
»Wir haben dir einen Platz gedeckt.«
Er schaut sie an. »Wirklich?«
Sie nickt.
Alle starren ihn an, und ich denke schon, gleich sagt er etwas, weil Roux es doch nicht leiden kann, wenn die Leute ihn anglotzen – er kann es schon nicht besonders leiden, wenn viele Leute da sind.
Aber dann geht sie zu ihm und küsst ihn sanft auf den Mund. Und Roux setzt Rosette auf den Boden und nimmt Maman in die Arme.
Jetzt brauche ich den Rauchenden Spiegel nicht mehr, um zu wissen, was los ist. Diese Situation kann niemand missverstehen, diesen Kuss. Die beiden passen einfach zusammen, wie zwei Puzzleteile. Und dann das Leuchten in ihren Augen, als sie seine Hand nimmt und sich lächelnd allen Anwesenden
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