Himmlische Wunder
zuwendet.
Komm schon , sage ich mit meiner Schattenstimme. Sag’s ihnen. Sag es, sag es jetzt –
Und dann schaut sie mich an. Nur eine Sekunde lang, aber ich weiß, dass sie meine Botschaft bekommen hat. Sie richtet den Blick auf unsere Freunde. Jean-Loups Mutter steht immer noch da und macht ein Gesicht wie eine ausgelutschte Zitrone. Maman zögert. Alle Augen sind auf sie gerichtet – und ich weiß, was sie jetzt denkt. Es ist ganz offensichtlich. Sie wartet darauf, dass die anderen diesen Blick bekommen, den Blick, den wir so oft gesehen haben und der sagt: Ihr passt nicht hierher, ihr gehört nicht zu uns, ihr seid anders .
Keiner am Tisch sagt etwas. Stumm schauen sie Maman an, mit rosigen Gesichtern und satt, außer Jean-Loup und seiner Mutter natürlich, die uns angafft, als wären wir ein Rudel Wölfe. Da ist der dicke Nico, Hand in Hand mit Alice, die ihre Feenflügel trägt; Madame Luzeron, ein bisschen deplatziert mit ihrem Twinset und der Perlenkette; Madame Pinot in ihrem Nonnenkostüm, die zwanzig Jahre jünger aussieht, weil sie die Haare offen trägt; Laurent mit dem Funkeln in den Augen, Richard und Mathurin, Jean-Louis und Paupaul, die sich eine Zigarette teilen, und keiner, kein einziger von ihnen hat diesen Blick .
Und es ist Mamans Gesicht, das sich verändert. Irgendwie wird es weicher. Als wäre ihr ein tonnenschwerer Stein vom Herzengefallen. Und zum ersten Mal seit Rosettes Geburt sieht sie wieder aus wie Vianne Rocher, die Vianne, die nach Lansquenet kam und sich nicht darum kümmerte, was die Leute sagten.
Zozie lächelt.
Jean-Loup fasst seine Mutter an der Hand und zwingt sie Platz zu nehmen.
Laurents Mund klappt auf.
Madame Pinot wird rot wie eine Erdbeere.
Und Maman sagt: »Leute, ich möchte euch jemanden vorstellen. Das ist Roux. Er ist Rosettes Vater.«
9
M ONTAG , 24 . D EZEMBER
Heiligabend, 22 Uhr 40
Ich höre den kollektiven Seufzer. Unter anderen Umständen wäre das sicher ein Zeichen von Missbilligung gewesen, aber heute, nach dem Essen und dem Wein und abgemildert durch die Weihnachtsgefühle und den ungewohnten Schneeglanz, klingt es wie das Aaaah ! nach einer besonders spektakulären Feuerwerksrakete.
Roux macht ein eher skeptisches Gesicht, aber dann grinst er doch, nimmt von Madame Luzeron ein Glas Champagner entgegen und prostet uns allen zu.
Er folgte mir in die Küche, als das Gespräch wieder in Gang kam. Rosette krabbelte in ihrem Affenkostüm hinter ihm her, und mir fiel ein, wie fasziniert sie von ihm war, als er das erste Mal in den Laden kam, als hätte sie ihn sofort erkannt.
Roux beugte sich zu ihr hinunter und strich ihr über den Kopf. Die Ähnlichkeit zwischen den beiden ist so augenfällig, dass ich ein wehmütiges Ziehen im Herzen spürte, weil ich daran denken musste, was wir alles verpasst hatten. So vieles hat er nicht miterlebt: als Rosette das erste Mal den Kopf hob, ihr erstes Lächeln, ihre Tierzeichnungen, den Löffeltanz, der Thierry immer so nervte. Aber ich konnte von seinem Gesicht ablesen, dass er ihr nie Vorwürfe machen wird, weil sie anders ist als die anderen, er wird sich nie ihretwegen schämen, er wird sie nie mit den anderen Kindern vergleichen oder von ihr verlangen, anders zu sein, als sie ist.
»Wieso hast du es mir nicht gesagt?«, fragte er mich.
Ich zögerte. Welche Wahrheit sollte ich ihm sagen? Dass ich zu viel Angst hatte, dass ich zu stolz war, zu stur, um mich zu verändern,dass ich, genau wie Thierry, einer Fantasievorstellung hinterherlief, die sich, als sie endlich in Reichweite kam, nicht etwa als Gold herausstellte, sondern als Stroh?
»Ich wollte mich irgendwo niederlassen. Ich wollte, dass wir normal sind.«
»Normal?«
Ich erzählte ihm den Rest: von unserer Flucht von einem Ort zum andern, von dem falschen Ehering, von dem neuen Namen, vom Ende der Magie, von Thierry. Von dem Wunsch, um jeden Preis akzeptiert zu werden – und sei es um den Preis meines Schattens oder sogar meiner Seele.
Roux sagte eine Weile gar nichts, dann lachte er leise in sich hinein. »Und das alles für einen Pralinenladen?«
Ich schüttelte den Kopf. »Nein. Jetzt nicht mehr.«
Er hatte schon immer gesagt, ich würde mich viel zu sehr anstrengen und alles zu wichtig nehmen. Erst jetzt kann ich sehen, dass ich ausgerechnet die Dinge, die für mich wirklich eine tiefe Bedeutung haben, nicht wichtig genug genommen habe. Eine Chocolaterie besteht letztlich auch nur aus Sand und Mörtel, aus Stein und Glas. Sie hat
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