Himmlische Wunder
Hilfsbedürftigkeit wie eine gefährliche Schwäche vorkommt.
»Aber du kannst den Laden doch nicht allein führen. Was wird dann mit den Kindern?«, sagte er.
»Ich schaff das schon«, wiederholte ich. »Ich bin –«
»Du kannst nicht alles allein machen.« Er wirkte jetzt leicht verärgert. Die Schultern hochgezogen, die Hände in den Taschen vergraben.
Ich schaute wieder zu Zozie, die zwei Teller in den Händen hielt und mit den Pélote -Spielern hinten im Raum scherzte. Sie sieht so unbeschwert aus, so unabhängig, so ganz sie selbst, während sie die Gerichte serviert, die Gläser einsammelt, die streunenden Hände mit einer schlagfertigen Bemerkung oder einer spielerischen Handbewegung abwehrt.
Tja, so war ich auch mal , sagte ich mir. So war ich vor zehn Jahren .
Ach, so lange ist es gar nicht her, denn Zozie ist garantiert nicht viel jünger als ich, aber sie fühlte sich wohler in ihrer Haut, sie ist viel mehr Zozie, als ich damals Vianne war.
Wer ist Zozie? frage ich mich. Diese Augen sehen weiter als bis zu dem Geschirr, das gespült werden muss, oder den gefalteten Geldscheinen unter dem Tellerrand. Blaue Augen sind leichter zu entschlüsseln, aber meine Tricks, die mir in all den Jahren schon oft genützt haben (wenn auch nicht immer zum Guten), versagen aus irgendeinem Grund bei ihr. Bei manchen Leuten ist das eben so, sage ich mir. Aber dunkel oder hell, mit weicher Füllung oder hart, Bitterorange, Manon blanc oder Vanilletrüffel, ich weiß nicht mal, ob sie Schokolade mag, und auch habe ich keine Ahnung, welche Pralinen ihre Lieblingssorte sind.
Aber warum denke ich dann, dass sie weiß, welche ich mag?
Ich schaute Thierry an und sah, dass er sie ebenfalls beobachtete.
»Du kannst es dir nicht leisten, jemanden einzustellen. Das Geld reicht ja schon so kaum.«
Wieder spüre ich Ärger in mir hochsteigen. Für wen hält er sich eigentlich? Als hätte ich noch nie etwas geschafft, als wäre ich ein kleines Mädchen, das mit seinen Freundinnen Kaufladen spielt. Klar, die Chocolaterie lief in den letzten Monaten nicht so berauschend gut. Aber die Miete ist bis Jahresende bezahlt, und wir werden das schon hinkriegen. Weihnachten steht vor der Tür, und mit ein bisschen Glück …
»Yanne, ich glaube, wir sollten uns mal unterhalten.« Das Lächeln ist verschwunden, und jetzt sehe ich den Geschäftsmann in seinem Gesicht, den Mann, der mit vierzehn Jahren angefangen hat, gemeinsam mit seinem Vater eine heruntergekommene Wohnung in der Nähe des Gare du Nord zu renovieren und der sich inzwischen zu einem der erfolgreichsten Immobilienmakler in Paris hochgearbeitet hat. »Ich weiß, es ist schwer. Aber ehrlich gesagt, so schwer müsste es gar nicht sein. Es gibt für alles eine Lösung. Ich weiß, dass du Madame Poussin immer treu zur Seite gestanden bist. Du hast ihr viel geholfen, und dafür bin ich dir sehr dankbar.«
Er glaubt, dass das, was er da sagt, tatsächlich stimmt. Vielleicht war es so, aber ich weiß auch, dass ich Madame Poussin ausgenützt habe, so wie ich meine angebliche Witwenschaft ausgenützt habe, weil ich eine Ausrede brauchte, um das Unvermeidliche hinauszuschieben, den schrecklichen Punkt ohne Wiederkehr.
»Aber vielleicht geht es ja auch von nun an bergauf.«
»Bergauf?«, wiederholte ich.
Er lächelte mich wieder an. »Ich sehe in den Ereignissen eine Chance für dich. Wir sind natürlich alle sehr traurig wegen Madame Poussin, aber in gewisser Weise bist du dadurch viel freier. Du kannst tun, was du willst, Yanne – und ich glaube, dass ich etwas für dich gefunden habe, was dir gefallen wird.«
»Willst du sagen, ich soll die Chocolaterie aufgeben?« Für einen Moment hatte ich das Gefühl, als würde er eine Fremdsprache sprechen.
»Komm schon, Yanne. Ich habe deine Buchführung gesehen. Ich weiß, was Sache ist. Es liegt nicht an dir, du arbeitest hart, und die Geschäfte laufen überall schlecht, aber –«
»Thierry, bitte! Ich will das jetzt nicht.«
»Aber was willst du eigentlich?« Thierry klang genervt. »Der Himmel weiß, ich bemühe mich schon so lange um dich. Warum merkst du denn gar nicht, dass ich dir helfen will? Wieso lässt du mich nicht für dich tun, was ich kann?«
»Entschuldige, Thierry. Ich weiß ja, du meinst es gut. Aber –«
Und dann sah ich etwas vor meinem inneren Auge. Das passiert manchmal, in unvorsichtigen Momenten – ein Lichtreflex in der Kaffeetasse, ein Blick in den Spiegel, etwas, das wie eine Wolke über die
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