Himmlische Wunder
schimmernde Oberfläche gerade abgekühlter Pralinen huscht.
Eine Schachtel. Eine kleine himmelblaue Schachtel .
Was war in dieser Schachtel? Ich konnte es nicht sagen. Aber mich ergriff eine Art Panik, meine Kehle wurde trocken, ich konnte den Wind draußen in der kleinen Straße hören, und plötzlich hatte ich nur noch einen Wunsch: Ich wollte die Kinder nehmen und rennen und rennen –
Reiß dich zusammen, Vianne .
Ich redete, so sanft ich konnte. »Kann das nicht warten, bis sich alles ein bisschen sortiert hat?«
Aber Thierry ist ein Jagdhund, munter, entschlossen und unzugänglich für Argumente.
»Ich will dir doch gerade helfen, alles zu sortieren. Begreifst du das denn nicht? Ich möchte nicht, dass du dich totarbeitest. Das lohnt sich doch nicht, für ein paar jämmerliche Pralinenschachteln. Für Madame Poussin war das vielleicht richtig, aber du bist jung, du bist intelligent und das Leben liegt noch vor dir.«
Jetzt wusste ich, was ich gesehen hatte. Ganz eindeutig: eine kleine blaue Schachtel, von einem Juwelier in London, ein erlesener Diamant, ausgewählt mit Hilfe einer Verkäuferin, nicht sehr groß, aber dafür perfekt geschliffen, in blauem Samt …
Oh, bitte, Thierry. Nicht hier. Nicht jetzt.
»Ich brauche im Moment keine Hilfe.« Ich schenkte ihm mein strahlendstes Lächeln. »Und jetzt iss bitte dein Sauerkraut. Es schmeckt lecker.«
»Du hast es ja selbst kaum angerührt.«
Ich nahm einen Mund voll. »Siehst du?«
Thierry lächelte. »Mach die Augen zu.«
»Was – hier?«
»Mach die Augen zu und streck die Hand aus.«
»Thierry, bitte.« Ich versuchte zu lachen. Aber mein Lachen klang unsicher, wie eine Erbse, die in einem Kürbis rasselt.
»Mach die Augen zu und zähle bis zehn. Es wird dir gefallen. Ich versprech’s dir. Es ist eine Überraschung.«
Was konnte ich jetzt noch machen? Ich tat, was er mir sagte. Streckte die Hand aus wie ein kleines Mädchen, spürte, dass er etwas – klein, wie eine eingewickelte Praline – in meine Hand legte.
Als ich die Augen öffnete, war Thierry weg. Und die Schachtel lag in meiner Hand, genau wie ich es vor meinem inneren Auge gesehen hatte, mit dem Ring, einem eisigen Solitär, der mir aus einem mitternachtsblauen Samtbett entgegenblitzte.
5
F REITAG , 9 . N OVEMBER
Ich sag’s ja – genau wie ich es erwartet hatte. Ich beobachtete sie die ganze Zeit, während ihrer verkrampften kleinen Mahlzeit: Annie mit ihrem Leuchtschweif aus Schmetterlingsblau, das andere Mädchen, rotgolden, noch zu klein für meine Zwecke, aber nicht weniger faszinierend. Der Mann – laut und nicht besonders einflussreich – und dann die Mutter, still und vorsichtig, ihre Farben so gedämpft, dass sie fast keine zu sein scheinen, sondern nur der Abglanz der Straßen und des Himmels in einer Wasseroberfläche, die so unruhig ist, dass sie nichts widerspiegelt.
Eindeutig eine Schwäche. Etwas, was mir den Zugang zu ihr ermöglicht. Das sagt mir der Jagdinstinkt, den ich im Lauf der Jahre entwickelt habe. Ich besitze die Fähigkeit, eine lahme Gazelle auszumachen, ohne die Augen auch nur halb zu öffnen. Sie ist misstrauisch. Aber manche Menschen wollen an so viel glauben – an Zauberei, an die Liebe, an zündende Geschäftsideen, die ihre Investitionen unter Garantie verdreifachen –, und das macht sie aufgeschlossen gegenüber Leuten wie mir. Sie fallen immer wieder rein – aber ist das meine Schuld?
Ich war elf, als ich anfing, Farben zu sehen. Zuerst nur ein schwaches Leuchten, ein Goldglitzern aus dem Augenwinkel, einen Silberstreif, wo keine Wolke war, etwas Komplexes, Buntes, verschwommen in einer Menschenmenge. Mein Interesse wuchs und mit ihm meine Begabung, die Farben zu erkennen und eine Aura zu lesen. Ich begriff, dass jeder Mensch eine Signatur hat, ein Zeichenseines inneren Selbst, das allerdings nur wenige erwählte Menschen sehen können, und zwar mithilfe von ein paar Fingerübungen.
Meistens gibt es gar nicht viel zu sehen. Die Mehrheit der Leute ist so langweilig wie ihre Schuhe. Aber gelegentlich entdeckt man etwas, das lohnend erscheint. Ein zorniges Aufflammen auf einem ausdruckslosen Gesicht. Ein rosenrotes Banner über einem Liebespaar. Der graugrüne Schleier der Heimlichtuerei. Das hilft beim Umgang mit Menschen, klar. Und es hilft beim Kartenspiel, wenn das Geld knapp wird.
Es gibt das Fingerzeichen, das manche als das Auge des Schwarzen Tezcatlipoca bezeichnen, andere als den Rauchenden Spiegel. Dieses
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